Seit einem Jahr kann in der Schweiz Patienten mit Multipler Sklerose ohne vorgängige Sonderbewilligung Sativex® verschrieben werden, ein Spray, das Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD) enthält. THC wirkt unter anderem muskelrelaxierend und psychoaktiv, CBD ­analgetisch, antikonvulsiv, neuroprotektiv und anxiolytisch. Studien zeigen eine moderate Wirkung bei MS-korrelierter Spastik. Rund 50% der behandelten Patienten sind Responder (Verbesserung der Spastik um mindestens 20% innerhalb von vier Wochen). Bei Respon­dern liess sich in Studien in zwölf weiteren Therapiewochen eine zusätzliche signifikante Verbesserung der Spastik erzielen. Bisherige Erfahrungen zeigen, dass die behandelten Patienten meist ­geringere Dosen als in Studien benötigen und dass es bei Langzeit­anwendung nicht zur Dosissteigerung kommt.

«From Pariah to Prescription» hiess der Titel einer vor einigen Jahren erschienenen Übersichtsarbeit über die mögliche medizinische Anwendung von Cannabis [1]. Was damals utopisch und provokativ erschien, ist heute Realität geworden. Seit über einem Jahr dürfen Ärzte in der ganzen Schweiz auf einem einfachen Betäubungsmittelrezept und ohne vorgängige Sonderbewilligung durch das BAG ihren Patienten mit Multipler Sklerose (MS) Sativex® verschreiben, ein THC enthaltendes Spray. Und Staat und Wissenschaft haben dieser Praxis sogar noch ihren Segen gegeben, zumal eine umfangreiche, kürzlich erschienene und vom BAG mitfinanzierte Metanalyse zum Schluss kam, dass die muskelrelaxierende und schmerz­lindernde Wirkung von THC bei MS gut belegt sei ­[2].

MS-Betroffene wussten schon lange, dass Cannabis hilft

Vor wenigen Jahren, als es noch in vielen Teilen der Welt illegal war, selbst für medizinische ­Zwecke Cannabis zu konsumieren, schätzte man, dass 15% aller MS-Patienten regelmässig und eigentlich verbo­tenerweise die Droge Hanf (Cannabis oder Marihua­na) anwendeten. Der feste Glaube, dass Cannabis ihre Symptome wie Stress, Schlafstörungen, Muskelkrämp­fe und Schmerzen effektiver lindern kann als herkömmliche Medikamente, verleitete die Patienten dazu, gesetzeswidrig zu handeln. Hatten diese Patienten wirklich «die wertvollste Medizin, die wir besitzen» gefunden, wie es Dr. J. Russell Reynolds, der Leibarzt der Königin Victoria 1890 im Lancet ausdrückte? Oder waren diese Patienten lediglich die gutgläubigen Opfer skrupelloser Hanfdealer geworden?

Warum eine alte Panacea verbannt wurde

Cannabis ist seit mehr als 4000 Jahren als schmerzstillendes Mittel bekannt und gehört zur Gruppe der pflanzlichen Drogen, die wie Koka und Opium auch heute noch verwendet werden. Die Pflanze wurde 1842 aus Indien in die europäische Medizin eingeführt, um Schmerzen, Muskelspasmen, Krämpfe bei Wundstarrkrampf, Rheumatismus und Epilepsie zu lindern [3]. Als Tinctura Cannabis wurde sie bis ins 20. Jahrhundert hinein auch in Schweizer Apotheken frei verkauft. Aufgrund von Problemen bei der Qualitätskontrolle und politischem Druck in einer Welt mit zunehmendem Drogenmissbrauch wurde Cannabis jedoch 1961 aus den modernen westlichen Arznei­büchern verbannt, als die Vereinten Nationen beschlossen, dass Cannabis keine medizinische oder wissenschaftliche Wirkung habe. Kein Wunder – niemand wusste damals, dass der menschliche Körper sein eigenes Endocannabinoid-System mit schmerz­stillenden Eigenschaften besitzt!

Belegte therapeutische Eigenschaften der Cannabinoide

Genau in dieses Endocannabinoid-System wirkt Nabiximols, das als Sublingualspray unter dem Handelsnamen Sativex® vermarktet wird. Dieser alkoholische Cannabisextrakt enthält die zwei wichtigsten Cannabinoide der Hanfplanze, Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD) im Verhältnis 1:1. Ein Hub enthält 2,7 mg THC und 2,5 mg CBD. THC und CBD beeinflussen die Cannabinoidrezeptoren CB1 und CB2 und entfalten an diesen unterschiedliche, teilweise gegenteilige Wirkungen. Während THC u.a. muskelrelaxierend und psychoaktiv wirkt, besitzt CBD keine psychoaktiven Eigenschaften (es ist daher kein Betäubungsmittel wie THC), wirkt aber analgetisch, antikonvulsiv, neuroprotektiv und anxiolytisch. Diese Mischung hat sich bewährt, da CBD das psychoaktive und suchtbildende Potenzial von THC abzuschwächen vermag.

CB1-Rezeptoren sind im gesamten zentralen und peripheren Nervensystem präsent und stehen in vielfältiger Wechselwirkung mit zahlreichen Neurotransmittern und Neuromodulatoren. Konkret liess sich belegen, dass CB1-Rezeptoren via retrograder Hemmung die Freisetzung von Acetylcholin, Dopamin,­ GABA etc. beeinflussen können. Die antispastischen Wirkungen beruhen vor allem auf der Modulation der deszendierenden hemmenden Systeme des Rückenmarks [4]. CB1-Rezeptoren finden sich auch auf den Schmerzbahnen im Gehirn und im Rückenmark und sind vermutlich an der Cannabinoid-bedingten Analgesie beteiligt. Kleine, nicht-psychoaktive THC-Dosen sollen genügen, um in Kombination mit Opiaten­ synergistisch eine schmerzlindernde Wirkung zu entfalten. Opiate und Cannabinoide lassen sich gut kombinieren, zumal sie nicht die gleichen Rezeptoren besetzen. Cannabis unterbindet die opiatinduzierte Übelkeit und den Brechreiz und führt zur Wirkungsverstärkung, so dass die Opiatdosis gesenkt werden kann.­­

In den von der amerikanischen neurologischen Akademie veröffentlichen Guidelines wird nebst den antispastischen und analgetischen Eigenschaften der Cannabinoide noch ihre beruhigende Wirkung auf die überaktive Blase erwähnt [5]. Hingegen fand sich kein Beleg, dass THC den MS-bedingten Tremor dämpft. Auch liess sich das im Tierversuch mehrfach dargestellte neuroprotektive Potenzial der Cannabinoide leider nicht auf den Menschen übertragen [6].

Das Spray ist wirksam, aber nur moderat

In der erwähnten Metaanalyse zum medizinischen Einsatz von Cannabinoiden wurden alle bisher durchgeführten randomisierten kontrollierten Studien nach dem GRADE-Prinzip ausgewertet (Grading of Recommendations Assessment, Development and Evaluation). Zur Spastik lagen 14 Studien vor, davon elf bei MS (n=2138) und drei bei Paraplegie (n=142). Alle Studien hatten Placebo-Kontrollgruppen.

Insgesamt ergeben die Studien einen Vorteil für Nabiximols bei MS-korrelierter Spastik. In den drei Studien, welche die globale Änderung an einer visuellen Analogskala (VAS) prüften, ergab sich eine Odds Ratio von 1,44 (44% Verbesserung, 95%-KI: 1,07–1,94). Weiterhin wird erwähnt, dass Nabiximols die Schlafqualität deutlicher verbessert als Placebo. Bezogen auf die Nachbeobachtungsdauer von 3–15 Wochen lautete die GRADE-Beurteilung dieser grossen Analyse «moderate Evidenz» für eine Wirkung bei MS-assoziierter Spastik, gemessen an der Ashworth Spasticity Scale oder an der Gehgeschwindigkeit. Für die strengeren Outcomes «50% Reduktion der Spastik bei einem Follow-up von 6–14 Wochen» sowie «Gesamteindruck» wird die Evidenz als mit «geringem Grad vorhanden» beurteilt.

Bei Respondern hilft das Spray besser

Nicht alle Patienten sprechen gleich gut auf Nabiximols an. So prüfte eine Studie gezielt Nabiximols bei Patienten, die in einer Vorlaufphase als Responder ermittelt wurden. Responder sind Patienten, bei denen sich nach vierwöchiger Anwendung die Spastik gemessen an einer VAS um mindestens 20% verbessert. Bei den Respondern, zu denen ca. 50% der jeweils zu behandelnden Patienten gehören, liess sich in den zwölf Folge-Therapiewochen noch eine weitere, signifikante Verbesserung der Spastik erzielen [7]. Anwendungsbeobachtungen über ein Jahr bestätigten bei diesen Patienten eine anhaltende Wirkung
[8].

Abgabe nur an MS-Betroffene

Nabiximols ist gemäss Swissmedic zur Symptom­verbesserung bei Patienten mit mittelschwerer bis schwerer Spastik aufgrund von MS zugelassen, die nicht angemessen auf eine andere antispastische Arzneimitteltherapie angesprochen haben und die während­ des Behandlungsversuchs (üblicherweise vier Wochen) klinisch eine deutliche Verbesserung der Spastik-assoziierten Symptome erkennen lassen. Hierbei ist der subjektive Eindruck der Patienten entscheidend. Wichtig bei der Beurteilung der Wirksamkeit ist auch, die Meinung der Angehörigen und Pflegenden einzuholen.

Zur Behandlung der Spastik werden initial nebst der begleitenden Physiotherapie meist Muskelrelax­an­zien wie Tizanidin (Sirdalud®) und Baclofen (Lioresal®) eingesetzt. Als Nebenwirkung führen sie jedoch wirkungsbedingt zu muskulärer Schwäche, welche die Geh- oder Stehfähigkeit ähnlich stören können wie die Spastik. Diese Nebenwirkung wird Nabiximols bzw. Cannabinoiden eher weniger zugeschrieben. Verbessert die als Erstbehandlung empfohlene medikamentöse Therapie die Spastik nicht ausreichend, kann Sativex® als Add-on-Therapie eingesetzt werden. ­

Meistens genügen wenige Hübe pro Tag

Nach einem Therapieversuch von etwa vier Wochen sollten nur Responder weiter Nabiximols erhalten. Wichtig ist eine einschleichende Dosierung, um die Nebenwirkungen zu minimieren. Die Dosis muss variabel für jeden Patienten herausgefunden werden. Bei Schwindel und Benommenheit sollte die Haupt­dosis am Abend appliziert werden. Die Maximaldosis von zwölf Sprühstössen am Tag (30 mg THC/d) wird erfahrungsgemäss selten erreicht.  

Die bisherige Erfahrung zeigt, dass die behandelten Patienten meist geringere Dosen als in Studien benötigen und dass es bei Langzeitanwendung nicht zur Dosissteigerung kommt. Swissmedic schätzt die Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung einer Abhängigkeit als gering ein. Dennoch ist Nabiximols ein Betäubungsmittel mit den entsprechenden Erfordernissen für die Verschreibung. Bei Patienten mit Suchtmittelmissbrauch sollte die Indikation besonders sorgfältig evaluiert werden. Suizidalität, Schwangerschaft und psychiatrische Erkrankungen sind Kontraindikationen für Nabiximols. Während der Einnahme und bis drei Monate nach Absetzen sollten Patientinnen Massnahmen zur Empfängnisverhütung vorsehen.

Kognitive Einbussen können auftreten und die Fahrtüchtigkeit kann, besonders unmittelbar nach der Anwendung und zu Therapiebeginn, eingeschränkt sein. Über die eventuell reduzierte Fahr- und gegebenenfalls beeinträchtigte Arbeitsfähigkeit muss der Patient informiert werden.

Obwohl 62 Studien vorliegen, die auch die Nebenwirkungen untersucht haben, liegt bislang noch keine Arbeit zu möglichen Langzeitnebenwirkungen bei Anwendung von Nabiximols über ein Jahr vor.

Ins­gesamt wird die Verträglichkeit als «gut» eingeschätzt.

Cannabis-Tinkturen und ölige Mischungen auf dem Schweizer Markt

In der erwähnten Review wurden verschiedene Darreichungsformen des Cannabis-Extrakts THC miteinander verglichen [5]. Allerdings wurden die in den Schweizer Apotheken aus der Pflanze direkt hergestellten Präparationen zur oralen Einnahme (Cannabisöl und -tinkturen) bisher in keiner Studie berücksichtigt. Deshalb ist die Wirksamkeit dieser Präparate im Vergleich nicht schlüssig beurteilbar. In der Review fand sich kein signifikanter Unterschied bezüglich der Wirksamkeit zwischen der oromukosalen Anwendung in Form des Nabiximols-Sprays, dem inhaliertem ­THC in Zigarettenform und oral eingenommenem THC in Tablettenform. Die oromukosale Anwendung von Nabiximols ergibt zwar eine etwas günstigere Pharmakokinetik und zuverlässigere Resorption als bei oralen Zubereitungen wie THC-Tabletten und Cannabisöl resp. -tinktur; es kann jedoch von einer gleichwertigen Effizienz der oral eingenommenen Präparate ausgegangen werden.

Die Resorption von THC wäre bei Inhalation am höchsten, jedoch spricht die Nebenwirkungsrate des Rauchens – das bislang nicht legalisiert ist – deutlich zu Ungunsten dieser Applikationsform. Weiter birgt der gerauchte Cannabis die Gefahr, dass sich die durch die MS bereits vorbestehenden kognitiven Einbussen verstärken, wie eine MRT-basierte Studie es zeigen konnte [9].

Sativex® ist teurer, aber sauberer als Hanf von der Strasse

Der Tagestherapiepreis, berechnet für 10 mg THC (4 Sprühstösse/d), beträgt für Nabiximols (Sativex®) 8 CHF. Die Kosten für andere in der Schweiz rezeptierbare Cannabispräparate sind zum Teil deutlich höher (Dronabinol-Lösung: 10 mg = 17 CHF; Cannabistinktur: 10 mg = 10 CHF, Cannabisöl: 10 mg = 16 CHF). Da weder die erwähnten Cannabispräparate noch Sativex® auf der Arzneimittelleiste mit Tarif figurieren, werden diese Substanzen nicht von der obligatorischen Krankenversicherung übernommen.

In der Praxis hat es sich bewährt, den Patienten die erste Packung selbst bezahlen zu lassen und eine – meist erfolgreiche – Rückerstattung bei der Krankenkasse zu beantragen wenn die Substanz wirkt. Der Verfasser hat damit gute Erfahrungen gesammelt [10].

Weiterführende Informationen:
Schweizerische Arbeitsgruppe für Cannabinoide in der Medizin (SACM), www.stcm.ch

Literatur:

  1. Russo E: Introduction: Cannabis: From Pariah to Prescription. Journal of Cannabis Therapeutics 2004; 4(3): 1–29.
  2. Whiting PF, et al.: Cannabinoids for Medical use. A systematic review and meta-analysis. J Amer Med Ass 2015; 313: 2456–2473.
  3. O’Shaughnessy WB: On the preparations of the Indian Hemp, or Gunjah, (Cannabis Indica): their effects on the animal system in health, and their utility in the treatment of tetanus and other convulsive diseases. Prov Med J Retrosp Med Sci 1843; 123: 363–369.
  4. Pryce G, Baker D: Potential Control of Multiple Sclerosis by Cannabis and the Endocannabinoid System. CNS & Neurological Disorders – Drug Targets 2012; 11: 624–641.
  5. Koppel BS, et al.: Systematic review: efficacy and safety of medical marijuana in selected neurologic disorders: report of the Guideline Development Subcommittee of the American Academy of Neurology. Neurology 2014; 82: 1556–1563.
  6. Zajicek J, et al.: Effect of dronabinol on progression in progressive multiple sclerosis (CUPID): a randomised, placebo-controlled trial. Lancet Neurol 2013; 12: 857–865.
  7. Novotna A, et al.: A randomized, double-blind, placebo-controlled, parallel-group, enriched-design study of nabiximols (Sativex), as add-on therapy, in subjects with refractory spasticity caused by multiple sclerosis. Eur J Neurol; 2011; 18(9): 1122–1131.
  8. Flachenecker P, et al.: Long-term effectiveness and safety of nabiximols (tetrahydrocannabinol/cannbidiol oromucosal spray) in clinical practice. European Neurology 2014; 72: 95–102.
  9. Pavisian B, et al.: Effects of cannabis on cognition in patients with MS: a psychometric and MRI study. Neurology 2014; 82: 1879–1887.
  10. Vaney C: Cannabinoide in der MS Therapie. Swiss Med For 2016, in press.

InFo NEUROLOGIE & PSYCHIATRIE 2016; 14(1): 8–10

Autoren
  • Dr. med. Claude Vaney 
Publikation
  • INFO NEUROLOGIE & PSYCHIATRIE 

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