Der diesjährige Schmerz- und Palliativtag stand unter dem Motto «Sorgen und Versorgen – Schmerzmedizin konkret». Neben der Versorgungsforschung gehören die Palliativmedizin, invasive Verfahren, Kopfschmerzen mit Fokus auf die Primärversorgung, Psychotherapie in Zeiten knapper Ressourcen und das gesundheitspolitische Symposium zu den Schwerpunkten der Diskussionsrunden.
Auf der Tagung wurde u.a. eine patientenorientierte und vor allem nicht nur proklamierend-fordernde, sondern auch konkrete einflussnehmende evidenzbasierte Schmerz- und Palliativmedizin gefordert. Diese kann aber nur dann zu den gewünschten nachhaltigen Verbesserungen der Patientenversorgung führen, wenn die verantwortlichen Akteure und Betroffenen an ihrer Entwicklung beteiligt werden, unterstrich PD Dr. Michael A. Überall, Nürnberg (D), Vizepräsident der DGS und Präsident der Deutschen Schmerzliga. Dabei geht es nicht mehr nur um eine flächendeckende Optimierung der schmerzmedizinischen Versorgung, sondern zunehmend auch um ein neues Selbstverständnis bzgl. der Gestaltung selbiger durch die Verbesserung eines wissenschaftlichen Grundverständnisses um die Chancen, aber auch Grenzen der evidenzbasierten Medizin im 21. Jahrhundert. Dieser Prozess setzt ein wesentliches Umdenken im Hinblick auf klinische Studien und die Rolle praktizierender Ärzte voraus. Während die meisten medizinischen Studien unter praxisfernen Bedingungen in speziellen Einrichtungen durchgeführt wurden und dabei ein grosser Teil der Patienten des klinischen Alltags ausgeschlossen war, gewinnen heute Real World-Studien unter Verwendung nicht-interventionell, d.h. unter Alltagsbedingungen gewonnener Daten zunehmend an Bedeutung. Die Notwendigkeit, diagnostische und therapeutische Algorithmen im klinischen Alltag zu prüfen, neue diagnostische und therapeutische Verfahren unter diesen Bedingungen zu testen und vor allem auch weiter zu entwickeln, wird immer wichtiger, unterstrich der Experte. Denn vielfach stehen praktizierende Ärzte ohnmächtig immer neuen praxisfernen Leitlinienforderungen gegenüber und beklagen die unzureichende Berücksichtigung ihrer konkreten Erfahrungen aus dem Versorgungsalltag.
Schmerzerkrankungen nehmen zu
In allen Ländern der westlichen Welt gibt es einen kontinuierlichen Anstieg an chronischen Schmerzpatienten. Die Erhebungen unterschiedlichster Institutionen (u. a. RKI, BVA) belegen einen Anstieg auf zuletzt 33% der Gesamtbevölkerung. Schon 2014 betrug die Zahl der Patienten mit hochproblematischen chronischen Schmerzen mit biopsychosozialen Beeinträchtigungen 3,4 Millionen (4,15% der Gesamtbevölkerung) – Tendenz steigend. Daher wurde die Langzeitwirksamkeit der multimodalen Schmerztherapie genauer unter die Lupe genommen [1]. Neben der Schmerzreduktion zählen vor allem das aktive Management der Schmerzen und die Erhöhung der Lebensqualität zu den Zielen des Behandlungsmanagements. Schwerpunktmässig werden chronische Schmerzstörungen mit somatischen und psychischen Faktoren behandelt. Über einen Zeitraum von 4,5 Jahren wurden alle stationär behandelten Schmerzpatienten vor Aufnahme und sechs Monate nach Entlassung mit dem Deutschen Schmerzfragebogen befragt. Die erfassten Zielparameter waren die Schmerzintensität, Beeinträchtigung der Aktivitäten durch die Schmerzen, das psychische Befinden sowie die gesundheitsbezogene Lebensqualität. Die Ergebnisse belegen, dass die multimodale Behandlung in einem interdisziplinär ausgerichteten Schmerzzentrum auch bei höherer Schmerzchronifizierung längerfristig effektiv ist.
Migräne im Fokus
Aktuelle Informationen zum State-of-the-Art bzgl. Pathophysiologie, Diagnostik, Akuttherapie und Prävention der Migräne bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen lieferten eine grosse Gruppe unterschiedlicher Wissenschaftler [2]. Jeder zehnte Mensch auf der Welt ist an Migräne erkrankt, wie Prof. Dr. med. Michael Küster, Bonn (D), aufzeigte. In Europa liegt die Prävalenz bei 11,4%. Damit reiht sich die Migräne in die Volkskrankheiten wie Diabetes, KHK, Hypertonie, Osteoporose und Adipositas ein. Inzwischen besteht ein breites Armamentatrium sowohl für die Akutbehandlung als auch für die Prophylaxe. Dennoch sieht die Versorgungssituation der Betroffenen alles andere als rosig aus. Im Jahr 2021 nutzen lediglich 8–11% der Migränepatienten Triptane und weniger als 3% der Patienten mit mehr als fünf monatlichen Migränetagen erhielten eine Prophylaxe. Diese Erkenntnis konnte der Experte auch aus seinen eigenen Erfahrungen bestätigen. Im Schmerzzentrum stellen sich die Betroffenen häufig selber vor und behelfen sich mittels Eigenmedikation. Das führt jedoch häufig zu einem Medikamentenübergebrauchskopfschmerzen und Nierenschäden. Die Gründe könnten in einer mangelhaften Aus- und Weiterbildung, einem gefürchteten hohen Aufwand sowie schlechten Erfahrungen mit einer unzureichenden Attackentherapie liegen. Entsprechend könnte die Versorgung mit Hilfe der neuen Prophylaktika, einer interdisziplinären, multimodalen Schmerztherapie und einer Netzwerkbildung optimiert werden.
Wunsch und Wirklichkeit
Mit den Möglichkeiten von CGRP-Antikörpern in der Behandlung der chronischen Migräne setzte sich Dr. med. Axel Heinze, Kiel, auseinander [3]. Als Goldstandard wird bisher Onabotulinumtoxin A mit gutem Erfolg eingesetzt. Die Studien weisen eine Reduktion der Kopfschmerztage um 44% auf bei einer 50%-Responderquote von 47,1%. Allerdings besteht auch nach 12 Jahren Erfahrung noch keine detaillierten Kenntnisse über den Wirkmechanismus und vor allem über die Gründe einer nicht erfolgten Wirkung. Bei den CGRP-Antikörpern hingegen liegt eine überzeugende Rationale vor. Es ist bekannt, dass während eines Migräne-Anfalls iktal CGRP freigesetzt wird. Bei Patienten mit chronischer Migräne sind die CGRP-Spiegel sogar interiktal erhöht. Entsprechend ist anzunehmen, dass durch eine CGRP-Blockade eine effektive Wirkung erzielt werden sollte. Je nach Präparat konnten im Durchschnitt zwischen 25% und 51% weniger monatliche Migränetage bei guter Verträglichkeit erreicht werden. Im Vergleich zu Onabotulinumtoxin A sind CGRP-Antikörper vergleichbar wirksam, vergleichbar sehr gut verträglich und unterscheiden sich lediglich in ihren Anwendungsbeschränkungen. Inzwischen gibt es erste Hinweise, dass beide Wirkstoffe synergistische Effekte haben könnten.
Kongress: Deutscher Schmerz- und Palliativtag 2023
Literatur:
- Haase I, Kuhnt O, Klimczyk K, Steinberger M: Langzeitwirksamkeit multimodaler Schmerztherapie bei Patienten mit höherer Schmerzchronifizierung. E-Poster. Deutscher Schmerz- und Palliativtag 2023.
- Küster M, Binsfeld H, Oeding M: Kopfschmerz: Primärversorgung im Fokus I. Präsentations ID 106. Deutscher Schmerz- und Palliativtag 2023.
- Küster M, Göbel C, Göbel H, Heinze A: Chronische Migräne, was dann? Session ID S14. Deutscher Schmerz- und Palliativtag 2023.
InFo NEUROLOGIE & PSYCHIATRIE 2023; 21(2): 28
InFo RHEUMATOLOGIE 2023; 5(1): 21
Autoren
- Leoni Burggraf
Publikation
- INFO NEUROLOGIE & PSYCHIATRIE
- INFO RHEUMATOLOGIE
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