Die HAUSARZT PRAXIS befragte Dr. med. Annika Schade, Fach­ärztin FMH für ORL und Neurologie, RehaClinic Bad ­Zurzach, oberärztlich tätig in der akutnahen Neurorehabilita­tion von ­RehaClinic am Standort Kantonsspital Baden, zum Thema Schwindel. Im Gespräch ging es um Diagnosestrategien und die Differenzierung der verschiedenen Schwindelformen. Zusätzlich wurden diagnostische und therapeutische Manöver und die Möglichkeiten der pharmakologischen ­Behandlung diskutiert.

Frau Dr. Schade, Schwindel ist weit verbreitet und kann Symptom verschiedener Ursachen sein. Welche Schwindelformen / Schwindelsyndrome gibt es und wie häufig treten sie Ihrer Erfahrung nach auf?

Dr. Schade: Grundsätzlich können Schwindelbeschwerden nach Art des Schwindels und nach der wahrscheinlichsten Ätiologie eingeordnet werden.

Bei der Art des Schwindels werden gerichtete Schwindelbeschwerden wie Drehschwindel sowie Liftschwindel und ungerichtete Schwindelbeschwerden mit Gangunsicherheit unterschieden.

Bezüglich der Ätiologie werden Schwindelbeschwerden in peripher-vestibuläre, zentral-vestibuläre Syndrome und nicht-vestibuläre Schwindelsyndrome eingeteilt. Die peripher-vestibulären Erkrankungen, mit ungefähr 40% die häufigste Form, sind vor allem durch den benignen paroxysmalen Lagerungsschwindel und die periphere Vestibulopathie (Synonym: Neuritis vestibularis) charakterisiert. Zerebrovaskuläre Ereignisse, die vestibuläre Migräne sowie entzündliche ZNS-Erkrankungen (vor allem Multiple Sklerose) sind zentral-vestibuläre Erkrankungen mit einer Häufigkeit von knapp 30%. Die Ursachen der nicht-vestibulären Schwindelsyndrome sind zahlreich: Psychische Erkrankungen, Präsynkopen, degenerative Veränderungen der HWS und medikamentöse Nebenwirkungen [1].

Welchen Stellenwert haben apparative Diagnosetools bei der Abklärung von Schwindel?

Schlüssel zur Diagnosestellung beim Leitsymptom Schwindel ist die genaue Erhebung der Anamnese und klinische Untersuchung, da die diagnostischen Kriterien der meisten Schwindelsyndrome auf diesen Informationen beruhen.

Die apparativen Untersuchungen wie MRI, CT oder kalorische Prüfung haben einen sekundären Stellenwert. Bis 20% der Diffusions-MR Schädel sind bei einem Hirninfarkt der hinteren Schädel­grube in den ersten 24 Stunden nach Symptombeginn unauf­fällig [2].

In der Anamnese sollen die Art des ­Schwindels, die Dauer der Schwindelbeschwerden, Auslöser/Verstärkung des Schwindels sowie neurologische Be­gleitsymptome erfragt werden. Liegen neurologische Begleitsymptome vor, ist eine zentral-vestibuläre Ursache wahrscheinlich. In dieser Situation sollte eine rasche notfallmässige Abklärung erfolgen, insbesondere wenn es sich um einen akut aufgetretenen Schwindel handelt.

Der Nachweis einer Skew-Deviation (vertikale Divergenzstellung der Augen) im alternierenden Ab­decktest, eines Blickrichtungsnystagmus entgegen der Richtung des Spontannystagmus oder ein normaler Kopfimpulstest bei akut aufgetretenem Schwindel sprechen für eine zentral-vestibuläre Störung (Trias HINTS: Head Impulse Test, Nystagmus, Test of Skew). Als zusammen­fassendes Akronym kann man sich das Wort INFARCT merken (Impulse Normal or Fast-phase Alternating or Refixation on Cover Test).

Dem benignen peripheren paroxysmalen Lagerungsschwindel (BPPV) begegnet man am häufigsten. Wie werden die unterschiedlichen Formen (BPPV des ­posterioren, horizontalen und anterioren Bogengangs) zuverlässig diagnostiziert?

Die Verdachtsdiagnose des BPPV kann bereits durch seine charakteristischen kurzen Drehschwindel­episoden nach Lagewechsel mit dazwischen beschwerdefreien Intervallen gestellt werden. Werden die Episoden durch Bewegungen in der Vertikalebene ausgelöst, handelt es sich um die häufigste Form, ­derjenigen des posterioren Bogengangs (ca. 80%). Sind Bewegungen­ nur in der horizontalen Ebene auslösend, spricht dies für die horizontale Variante. Die anteriore Form des BPPV ist umstritten. Kann Drehschwindel durch Bewegungen in alle Richtungen ausgelöst werden mit langsamem Verschwinden des Drehschwindels in Ruhe, muss an eine milde periphere Vestibulopathie gedacht werden.

Bestätigt wird die Verdachtsdiagnose bei der posterioren Form durch das Hallpike-Manöver mit gleichzeitigem Nachweis eines passageren rotatorischen Nystagmus und Drehschwindelempfinden beim Pa­tienten. Die horizontale Form kann durch das sog. Barbecue-90°-Manöver auf beiden Seiten ausgelöst werden. Hierbei wird ein horizontaler Nystagmus beobachtet.

Unabhängig vom durchgeführten Repositionsmanöver kann nach erfolgreicher Behandlung vorübergehend ein Benommenheitsschwindel mit einer diskreten ­Gangunsicherheit auftreten, die vermutlich auf eine Dysfunktion des Utrikulus zurückzuführen ist.

Obschon die Repositionsmanöver einfach und schnell durchgeführt werden können, sollten Selbst­behandlungen durch den Patienten vermieden werden. Fehlt bei den Provokationsmanövern ein Nystagmusbefund oder empfindet der Patient keinen Schwindel trotz Beobachtung eines Nystagmus, muss an der Diagnose des BPPV gezweifelt und an eine zentral-vestibuläre Erkrankung gedacht werden.

Welche Manöver kommen in der BPPV-Therapie bevorzugt zum Einsatz und wie wirksam sind sie?

Im deutschen Sprachraum wird die posteriore Form des BPPV durch das Epley-Repositionsmanöver therapiert, in Französisch sprechenden Gebieten wird mehrheitlich das Semont-Manöver angewendet. Beide Repositionsmanöver sind mit ca. 90% Erfolgsquote gleichwertig.

Entsprechend wird bei der horizontalen Version durch das Barbecue-Manöver eine 270°-Drehung um die eigene Achse angewendet. Das Gufoni-Manöver ist eine alternative Option.

Morbus Menière wird ja hauptsächlich prophylaktisch angegangen. Daneben helfen Antivertiginosa im Akutstadium. Wie sieht die Studienlage aus, gibt es irgendwelche relevanten neuen Erkenntnisse oder neue Wirkstoffe im Bereich Morbus Menière?

Die hochdosierte Betahistin-Therapie wird, wie Sie es bereits erwähnt haben, im Sinne einer Prophylaxe seit vielen Jahren angewendet. Gute Erfolge in der Basis- und Attackentherapie werden durch die intratympanale Injektion von Gentamicin und seit wenigen Jahren von Kortison erzielt. Neuere erfolgreiche Behandlungsmethoden oder -substanzen sind mir nicht bekannt.

Unterscheidet sich die Therapie der vestibulären Migräne von derjenigen der Migräne?

Keine andere Ursache für Schwindel wird international derzeit so kontrovers diskutiert wie die vestibuläre Migräne, nicht zuletzt, da die Diagnosestellung gelegentlich Schwierigkeiten bereitet.

Die Diagnose ist einfach, wenn wiederholt reversible Attacken mit unterschiedlicher Kombination aus Schwindel und Migränekopfschmerzen sowie migränetypische Begleitsymptome auftreten.Wenn Schwindelattacken isoliert und insbesondere ohne Kopfschmerzen manifestieren, ist die Diagnose nicht immer klar.

Aktuell gibt es keine einheitliche Therapieempfehlung für die vestibuläre Migräne. Die Therapieempfehlung für die vestibuläre Migräne orientiert sich derzeit an den Therapieleitlinien für die «klassische Migräne». Es gibt lediglich eine kleinere Studie zur Behandlung speziell der vestibuläre Migräne. Hier wurde die Wirkung von Zolmitriptan auf den Schwindel geprüft: Die Substanz war bei 38% der Patienten mit vestibulärer Migräne wirksam (Placebo 22%) [3]. Alle anderen Daten zur Therapie beruhen auf einzelnen Fallbeschreibungen, retrospektiven Fallserien und offenen Therapiestudien. Eine Therapieempfehlung, die besonders oder speziell zur Behandlung der vestibulären Migräne geeignet wäre, lässt sich aus diesen Daten bisher nicht ableiten. Zur Attackenbehandlung kann Zolmitriptan versucht werden, bei mehr als drei Anfällen im Monat kann eine Basistherapie mit Metoprolol, Amitriptylin oder Flunarizin je nach entsprechenden Komorbiditäten des Patienten gewählt werden (Therapieempfehlung der Schweizerischen Kopfwehgesellschaft).

Therapien für den phobischen Schwindel wurden kaum in kontrollierten randomisierten Studien geprüft. Wie verfährt man in der Praxis ohne derzeitige wissenschaftliche Grundlage?

Die Schwierigkeit des phobischen resp. psychosomatischen Schwindelsyndroms – die zweithäufigste Ursache bei Patienten mit Schwindel über 70 Jahre – ist die Diagnosestellung, da spezifische klinische Untersuchungsparameter fehlen. Häufig kann diese Diagnose erst nach mehreren Konsultationen sowie unauffälligen klinischen und apparativen Untersuchungen vermutet werden. In solchen Situationen empfiehlt sich der Beizug eines Psychiaters oder Psychologen. Nicht selten hat ein physiotherapeutisch geleitetes Schwindel- und Gleichgewichtstraining einen positiven Einfluss. Allerdings bestimmen oft sowohl Dauer als auch die Komplexität der Beschwerden, ob diese therapeutischen Massnahmen erfolgreich sind.

Welchen Stellenwert hat die Pharmakotherapie im gesamten Behandlungskonzept der akuten Neuritis vestibularis?

Bei einer Neuritis vestibularis kann bei ausgeprägter Übelkeit und Erbrechen eine symptomatische Therapie mit Antiemetika in den ersten Tagen gegeben werden. Aufgrund des sedierenden Nebeneffekts sollte diese Therapie, wenn möglich, nur kurzfristig verordnet werden. In einer Placebo-kontrollierten Studie konnte nach kurzdauernder Behandlung mit Glukokortikoiden eine signifikante Erholung der vestibulären Unterfunktion [4] beobachtet werden, sodass ein solcher Einsatz empfehlenswert ist. Wichtig ist jedoch die frühe Mobilisation des Patienten. Zur Verbes­serung der zentralen Kompensation des peripheren Defizits ist des Weiteren die physikalische Therapie mit Übungen des Gleichgewichts, der Standregulation und Blickstabilisation, insbesondere bei älteren Patienten, essenziell und entscheidend für die Langzeitprognose.

Interview: Andreas Grossmann

Literatur:

  1. Brandt T, et al.: Vertigo-Leitsymptome Schwindel. 2. Auflage. Heidelberg: Springer Medizin 2012.
  2. Tarnutzer AA, et al.: Does my dizzy patient have a stroke? A systematic review of bedside diagnosis in acute vesti­bular syndrome. CMAJ 2011 Jun 14; 183(9): E571–592.
  3. Neuhauser H, et al.: Zolmitriptan for treatment of migrainous vertigo: a pilot randomized placebo-controlled trial. Neurology 2003; 60: 882–893.
  4. Strupp M, et al.: Methylprednisolone, valacyclovir or the ­comination for vestibular neuritis. N Engl J Med 2004, 351: 354–361.

HAUSARZT PRAXIS 2015; 10(2): 22–25

Publikation
  • HAUSARZT PRAXIS 

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