Patientinnen und Patienten mit MS sollten frühzeitig über mögliche und häufige Blasenstörungen aufgeklärt werden. Das Problembewusstsein bei behandelnden Ärzten sollte geschärft werden, damit rechtzeitig eine adäquate Diagnostik und Therapie ein­geleitet werden kann und sich so Komplikationen vermeiden lassen. Eine Gangstörung eignet sich als Eingangskriterium für eine urologische Abklärung. Die Ziele der Therapie einer Blasenstörung bei MS sind das ­Sicher­stellen einer periodischen und vollständigen Entleerung der Blase, Behandlung oder Beherrschung der überaktiven Blase/Inkontinenz, Schutz des oberen Harntrakts und die Vermeidung von Komplikationen, insbesondere von Harnwegsinfekten. Rezidivierende Harnwegsinfekte bei MS begünstigen das Fortschreiten der MS; die Prävention von Harnwegsinfekten bedeutet damit Schub- bzw. Progressionsprävention.

Die Multiple Sklerose (MS) als chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems ist die häufigste neurologische Erkrankung im jungen Erwachsenenalter. Die vergangenen Jahrzehnte waren durch einen enormen Erkenntniszuwachs zu Ätiologie und Immunpathogenese der Erkrankung geprägt. Diese neuen Erkenntnisse gipfelten in mittlerweile etablierten immunologisch orientierten Behandlungsmöglichkeiten.

Neben Störungen der Motorik, der Hirnnerven, neuropsychologischen Symptomen und Schmerzen schränken vegetative Funktionsdefizite wie die Störung der Harntraktfunktion oder eine Harn­in­kon­ti­­nenz die Lebensqualität der Betroffenen in be­son­de­rem Masse ein. Diese Störungen rufen Kompli­ka­tionen hervor und beeinflussen andere Symptome der Erkrankung, wie Spastik und Fatigue, negativ.

Symptome des Harntrakts: fast alle MS-Patienten betroffen

Harntraktsymptome sind bereits bei 15% der Betroffenen Initialsymptom der Erkrankung, 80% haben im Verlauf der Erkrankung Miktionsbeschwerden. Nach zehn Erkrankungsjahren sind fast alle Patienten von einer Blasenstörung betroffen [1]. Bei bestehenden Gangstörungen kann von einer Blasenfunktionsstörung ausgegangen werden. Die Störungen der Harnblasenfunktion und die Harninkontinenz mindern die Lebensqualität der Betroffenen erheblich. Die Symptome der Grunderkrankung und der Harntraktfunktion können sich dabei gegenseitig beeinflussen und verstärken, so etwa die wechselseitige Verstärkung von Blasen- und Extremitätenspastik.

Blasenfunktionsstörung im Frühstadium der MS äussern sich oft als Harnspeicherstörungen, die sich unter dem Symptomkomplex der überaktiven Blase mit oder ohne begleitende Dranginkontinenz zusammenfassen lassen. Blasenfunktionsstörungen bei fortgeschrittener MS manifestieren sich zunehmend als kombinierte Speicher- und Entleerungsstörung, wobei zu den Symptomen der überaktiven Blase eine Harnretention hinzutritt. Bei konservativ nicht zu beherrschender Störung der Blasenfunktion bei weit fortgeschrittener MS und funktionell wie morphologisch dekompensiertem Harntrakt stellt sich nicht selten die Frage, ob und wann eine Harnableitung angezeigt ist.

Komplikationen von Störungen des Harntrakts

Komplikationen der MS im unteren und oberen Harntrakt kommen häufig vor. Harnwegsinfektionen treten bei rund einem Drittel aller Patienten regelmässig auf, das Risiko steigt in Korrelation zu einem vorhandenen Restharn, zum Geschlecht (42% bei Frauen vs. 17% bei Männern), zum Vorhandensein eines Dauerkatheters und zu einem hohen Blasendruck als Folge eines hyperaktiven Detrusors. Schäden des unteren Harntrakts wie eine Blasenwandverdickung, Trabekel oder Divertikel treten bei bis zu 30% der Patienten auf.

Die Inzidenz von Blasenkarzinomen ist bei MS ebefalls höher als in der Allgemeinbevölkerung, insbesondere bei liegendem Dauerkatheter und Immunsuppression. Auch der obere Harntrakt kann von Komplikationen betroffen sein: Infektionen der oberen Harnwege bei 8% der Patienten, Dilatation der oberen Harnwege in 8% der Fälle, vesikoureteraler Reflux bei 5% und Urolithiasis bei 2–11% [2]. Als Hauptrisikofaktoren für Komplikationen im oberen Harntrakt gelten die Dauer der Erkrankung, ein liegender Dauerkatheter, ungehemmte Detrusorkontraktionen hoher Amplitude oder ein permanent hoher Detrusordruck. Sekundäre Risikofaktoren sind die Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie, Alter über 50 Jahre und männliches Geschlecht.

Pyramidenbahnläsion und Blasenstörung

Bemerkenswert ist der Zusammenhang von Pyramidenbahnläsion und Blasenstörung bei MS. Eine Pyramidenbahnläsion korreliert mit irritativen Harntraktsymptomen, mit Funktionsstörungen des Harntrakts und mit den urodynamischen Befunden einer hyperaktiven Blase sowie einer Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie. Auch morphologische Schäden des unteren und oberen Harntrakts sind mit der Pyramidenbahn assoziiert [3–6].

Eine häufig mit einer Pyramidenbahnläsion verbundene Gangstörung bei MS eignet sich daher als Eingangskriterium für eine urologische Abklärung und man kann auch bis dahin urologisch asymptomatischen Patienten einer urologischen Abklärung zuführen. Die Abklärung und Behandlung der MS-bedingten Blasenstörungen dienen der Erhaltung bzw. Wiederherstellung der Lebensqualität und der Vermeidung von Komplikationen.

Erste Abklärungen und Verhaltenstherapie

Harntraktsymptome bei MS rufen beim Neurologen oft Unsicherheit im Hinblick auf die erforderliche Diagnostik und Therapie hervor. Vor einer Abklärung und Behandlung sollten der Leidensdruck erfragt und der Wunsch nach einer Therapie individuell ermittelt werden. Eckpfeiler der Erstdiagnostik sind das Trink- und Miktionsprotokoll einschliesslich der Dokumentation von Harninkontinenzepisoden, Urindiagnostik, Sonografie des Harntrakts und Uroflowmetrie mit Bestimmung des Restharns.
Einfache verhaltenstherapeutische Massnahmen bilden die Basis der Therapie: Dazu gehören die Anpassung der Trinkmenge, die Miktion in festen Zeitintervallen bzw. nach Aufforderung durch eine Hilfsperson und kontinenzfördernde und -erhaltende Beckenbodenübungen.

Weiterführende Diagnostik

Führen ein Verhaltenstraining und eine symptomatische Behandlung nicht zur Kontinenz oder ist eine operative Therapie geplant, so ist eine weitere Abklärung einschliesslich der neurologisch-neurophysiologischen und urodynamischen Untersuchung in einem spezialisierten Zentrum empfohlen. Die Blasenstörung nach einer Querschnittslähmung hat in der Klassifizierung des Störungstyps entsprechend der Lähmungshöhe Modellcharakter. Bei neurodegenerativen Erkrankungen wie der MS präsentieren sich die Störungen der Harntraktfunktion jedoch vielschichtiger und im Verlauf als veränderlich. Die Klassifikation der Harntraktfunktionsstörung bestimmt aber auch hier die Strategie zur Wiederherstellung einer möglichst physiologischen Harnspeicherung und -entleerung.

Die neurologische Untersuchung dient der Beurteilung des neurologischen Defizits auf mentaler, sensorischer und motorischer Ebene. Der mentale Status beinhaltet die Aspekte Aufmerksamkeit, Verständnis, Orientierung, Gedächtnis und Aktivität; er ist für die diagnostische Abklärung und die zu wählenden Therapieoptionen von Bedeutung. Die Untersuchung sensorischer Funktionen umfasst die Untersuchung relevanter Dermatome hinsichtlich des Berührungs- und Schmerzempfindens. Der Verlust sensorischer Funktionen kann auf das Niveau einer neurologischen Läsion hinweisen. Der motorische Status beurteilt Muskelkraft, Muskeltonus, abnormale Muskelbewegungen und Denervationszeichen.

Die Mobilität des Patienten ist für die Therapieauswahl ebenfalls von Bedeutung. Die Fähigkeit zur willkürlichen Kontraktion und Relaxation des Urethral- und Analsphinkters zeigt eine normale motorische Innervation des Beckenbodens. In Kombination mit Untersuchung des Analsphinktertonus kann auf die Lokalisation der Läsion geschlossen werden. Becken-Reflexe testen die Integrität der Rückenmarksegmente, so etwa der Bulbocavernosusreflex die Segmente S2–4 und den Nervus pudendus. Ein Eiswasser-Provokationstest zu Beginn der urodynamischen Untersuchung ermöglicht den Nachweis eines neurologischen Defizits auf Rückenmarks- oder suprapontiner Ebene.

Urodynamische Untersuchung

Aufgrund der videourodynamischen Untersuchung mit der Klassifizierung der Dysfunktion in Speicher-, Entleerung- oder kombinierte Speicher- und Entleerungsstörung erfolgt die Erarbeitung des Therapiekonzepts. In der urodynamischen Untersuchung findet sich bei bis zu 34% der symptomatischen Patienten ein Normalbefund. Häufige urodynamische Beobachtungen sind Detrusorhyperaktivität (65%), Detrusor­hypoaktivität (25%), eingeschränkte Compliance (2–10%) und Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie (35%). Die Kombination von mehreren urodynamischen Befunden ist häufig, so die Detrusorhyperaktivität und Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie in 43–80% der Fälle. Der urodynamische Befund verändert sich mit der Zeit: 55% der Patienten zeigen Veränderungen von Blasenkapazität, Kontraktilität, Detrusordruck und Compliance in wiederholten Messungen. Die Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie hingegen bleibt meist konstant bei 60% [1].

Ziele der Therapie

Aus therapeutischer Sicht stellen sich folgende Ziele:

  • Sicherstellen einer periodischen und vollständigen Entleerung der Blase
  • Behandlung oder Beherrschung der überaktiven Blase/Inkontinenz
  • Schutz des oberen Harntrakts
  • Vermeidung von Komplikationen, insbesondere von Harnwegsinfekten, da rezidivierende Harnwegs­infek­te das Fortschreiten der MS begünstigen können. Harnwegsinfektprävention bei MS bedeutet also auch Schub- bzw. Progressionsprävention [7].

Es gilt ein praktikables Konzept für jeden individuellen Patienten zu entwickeln und bei kombinierter Speicher- und Entleerungsstörung beide Komponenten zu behandeln.

Medikamente, Katheterisierung, sakrale Neuromodulation oder Operation

Bei der anticholinergen Behandlung einer überaktiven Blase sollten Interaktionen mit einer bereits bestehenden Medikation beachtet und Wirkstoffe ohne oder mit nur milden zentralnervösen Nebenwirkungen (Trospiumchlorid, Darifenacin) bevorzugt werden. Alternativ können Beta-3-Mimetika (Mirabregon) eingesetzt werden. Bei nicht ausreichender Wirkung bzw. Unverträglichkeit kommt die Injektion von Botulinumtoxin in den Detrusor in Betracht [8]. Die medikamentöse Therapie der sphinkterbedingter Entleerungsstörung umfasst den Einsatz von Alphablockern (Tamsulosin, Alfuzosin) und Antispastika (Lioresal, Dantrolen, Tizanidin).

Methode der Wahl bei Blasenentleerungsstörung und Restharn >50% der funktionellen Blasenkapazität ist der intermittierende Selbstkatheterismus. Patientenabhängige Voraussetzungen sind die Motivation für das Verfahren, eine ausreichende Handfunktion und das nötige Sehvermögen. Die fachkundige Unterweisung, das Training der Technik und die Beratung zu Kathetermodellen und speziellen Hilfsmitteln durch speziell ausgebildete Pflegeexperten sind wichtige Erfolgsfaktoren. Nach erfolgreichem Erlernen kann der Selbstkatheterismus über Jahre komplikations- und infektarm die Blasenentleerung erleichtern. Bei Frauen und Männern ist hiermit eine sehr gute Lebensqualität erreichbar. Ist der Selbstkatheterismus nicht möglich, so kann auch eine suprapubische Vibrationsstimulation als Trigger für eine Blasenentleerung nützlich sein [9].

Sowohl bei Harnspeicher- als auch bei Harnentleerungsstörungen kann die sakrale Neuromodulation eingesetzt werden. Patienten mit Drangsymptomen und Dranginkontinenz sowie mit Harnretention bei Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie sollte diese Methode angeboten werden [10,11]. Bei fortgeschrittener MS mit funktionell wie morphologisch dekompensiertem Harntrakt kommen operative Verfahren wie die Blasenaugmentation [12] oder die Harnableitung in Betracht [13,14].

Literatur:

  1. Litwiller SE, Frohman EM, Zimmern PE: Multiple sclerosis and the urologist. J Urol 1999; 161(3): 743–757.
  2. de Seze M, et al.: The neurogenic bladder in multiple ­sclerosis: review of the literature and proposal of management guidelines. Mult Scler 2007; 13(7): 915–928.
  3. Zachoval R, et al.: [Association between neurologic involvement and lower urinary tract dysfunction and their symptoms in patients with multiple sclerosis]. Progres en urologie : journal de l’Association francaise d’urologie et de la Societe francaise d’urologie 2003; 13(2): 246–251.
  4. Giannantoni A, et al.: Urological dysfunctions and upper urinary tract involvement in multiple sclerosis patients. Neurourol Urodyn 1998; 17(2): 89–98.
  5. Betts CD, et al.: Urinary symptoms and the neurological features of bladder dysfunction in multiple sclerosis. J of neurology, neurosurgery, and psychiatry 1993; 56(3): 245–250.
  6. Awad SA, et al.: Relationship between neurological and urological status in patients with multiple sclerosis. J Urol 1984; 132(3): 499–502.
  7. Metz LM, et al.: Urinary tract infections may trigger relapse in multiple sclerosis. Axone 1998; 19(4): 67–70.
  8. Mehnert U, et al.: The effect of botulinum toxin type a on overactive bladder symptoms in patients with multiple sclerosis: a pilot study. J Urol 2010; 184(3): 1011–1016.
  9. Medaer R, Kovacs L: Vibration-assisted bladder emptying in multiple sclerosis. Lancet 1978; 1(8067): 768–769.
  10. Minardi D, Muzzonigro G: Sacral neuromodulation in ­patients with multiple sclerosis. World J Urol 2012; 30(1): 123–128.
  11. Marinkovic SP, Gillen LM: Sacral neuromodulation for multiple sclerosis patients with urinary retention and clean intermittent catheterization. International Urogynecology J  2010; 21(2): 223–228.
  12. Zachoval R, et al.: Augmentation cystoplasty in patients with multiple sclerosis. Urologia internationalis 2003; 70(1): 21–26; discussion 26.
  13. DeLong J, Tighiouart H, Stoffel J: Urinary diversion/reconstruction for cases of catheter intolerant secondary progressive multiple sclerosis with refractory urinary symptoms. J Urol 2011; 185(6): 2201–2206.
  14. Desmond AD, Shuttleworth KE: The results of urinary diversion in multiple sclerosis. Br J Urol 1977; 49(6): 495–502.

InFo NEUROLOGIE & PSYCHIATRIE 2016; 14(1): 12–14

Autoren
  • Prof. Dr. med. Regula Doggweiler 
  • PD Dr. med. André Reitz 
Publikation
  • INFO NEUROLOGIE & PSYCHIATRIE 

Comments are closed.