Wie verändert sich das Immunsystem im Laufe eines Lebens und welchen Einfluss haben solche Veränderungen auf die Entwicklung und Behandlung einer Multiplen Sklerose? Antworten auf diese und ähnliche Fragen gaben Prof. Dr. med. Amit Bar-Or (USA) und Prof. Dr. med. Jiwon Oh (CAN) im Rahmen eines Symposiums.
«In den letzten 25 Jahren hat sich die Therapie der Multiplen Sklerose grundlegend verändert», erklärte Prof. Dr. med. David Bates (UK), der Vorsitzende des Symposiums. «Dadurch hat sich auch die Lebenserwartung der Patienten verbessert.» Es gebe daher immer mehr Patienten mit Multipler Sklerose (MS) in einem höheren Alter. Zudem steige der Anteil an Patienten, bei denen die Erkrankung erst in einem Alter von über 60 Jahren diagnostiziert wird. «Am anderen Ende des Altersspektrums werden immer mehr Kinder mit erworbenen demyelinisierenden Erkrankungen diagnostiziert, darunter auch Kinder mit MS», führte Prof. Bates weiter aus. Zwischen den beiden Altersextremen schliesslich liegt eine Lebensphase, in der bei vielen Patienten auch die Familienplanung eine zentrale Rolle spielt. Dies sei im Zusammenhang mit einer MS und ihrer Therapie ebenfalls von Bedeutung.
Wenig Therapieoptionen für pädiatrische Patienten
Wie Prof. Dr. med. Amit Bar-Or (USA) weiter erläuterte, geht das Konzept der Entwicklung einer MS im Erwachsenenalter davon aus, dass es durch die Interaktion multipler Gene und Umweltfaktoren im Laufe der Zeit zu einer mangelhaften Regulation des Immunsystems in der Peripherie und einer zielgerichteten Immunantwort kommt, die zu den für eine MS typischen Veränderungen führt. «Auch wenn an der Entstehung der pädiatrischen MS womöglich gleich viele Gene beteiligt sind, ist der Zeitraum der Exposition gegenüber Umweltfaktoren sicherlich kürzer», gab der Redner zu bedenken. Zudem sei es eine grundlegende Aufgabe des Immunsystems, auf alle möglichen Einflüsse zu reagieren. «Dadurch verändert es sich aber. Es kann daher schwierig sein, solche physiologischen Veränderungen – die kein potenzielles therapeutische Ziel darstellen – von pathologischen zu unterscheiden. Aufgrund ihres Alters ist bei Kindern die Zahl solcher Veränderungen noch geringer, was die Forschungen erleichtern kann.» Im Rahmen von Studien konnte so beispielsweise entdeckt werden, dass bei Kindern mit MS bestimmte abnorme T-Zell-Subpopulationen nachweisbar sind [1].
«Falls ein Kind eine MS entwickeln, so geschieht dies typischerweise während der Pubertät», schilderte Prof. Dr. med. Jiwon Oh (CAN). Wie bei den erwachsenen Patienten seien auch von der pädiatrischen MS deutlich mehr Mädchen als Jungen betroffen. Ist die Schubrate in der initialen Phase der Erkrankung hoch, so korreliert dies mit einer schlechten Prognose [2,3]. «In den ersten zehn Jahren der MS kommt es bei den pädiatrischen Patienten nur selten zur Entwicklung von körperlichen Behinderungen. Längerfristig gesehen tritt eine irreversible Behinderung bei diesen Patienten aber zehn Jahre früher auf als bei Patienten, bei denen sich die Erkrankung im Erwachsenenalter manifestiert», so Prof. Oh weiter. «Allerdings kommt es bereits im ersten Erkrankungsjahr zu kognitiven Veränderungen, die unbehandelt rasch voranschreiten können.» Deshalb liegt das Therapieziel bei pädiatrischen MS-Patienten in einem frühen Stopp der Krankheitsaktivität [4]. Therapieoptionen für Kinder existieren jedoch kaum. Verschiedene krankheitsmodifizierende Therapien (DMTs), so z.B. Peginterferon beta-1a, Dimethylfumarat, Teriflunomid und auch Alemtuzumab, werden aktuell in Studien bei pädiatrischen Patienten untersucht.
Langzeitwirksamkeit und -sicherheit ist wichtig
Nicht nur bei den pädiatrischen, sondern auch den erwachsenen MS-Patienten ist der frühe Einsatz einer Therapie angezeigt, hat doch der Zeitraum zwischen Diagnose und Therapiebeginn einen Einfluss auf die Krankheitsprogression [5]. «Wird dabei eine hochwirksame Therapie gewählt, kann diese die Progression besser kontrollieren, setzt den Patienten aber womöglich einem höheren Risiko für Nebenwirkungen aus», erklärte Prof. Oh. Für verschiedene DMTs liegen mittlerweile Daten zur Langzeitanwendung und -sicherheit vor. Am ECTRIMS präsentiert wurden unter anderem die Daten zur Sicherheit und Wirksamkeit von Dimethylfumarat bei schubförmig verlaufender MS über eine Behandlungsdauer von 10 Jahren [6]. Über diesen Zeitraum kam es bei 73% der Patienten zu keinem oder lediglich einem Schub. Die adjustierte jährliche Schubrate der Jahre 0 bis 10 beträgt 0,107. In Jahr 10 wiesen 79% der Patienten einen EDSS von ≤3,5 auf. Bei 64% der Patienten war es über die zehn Jahre zu keiner bestätigten Behinderungsprogression gekommen. Über den gesamten Zeitraum konnten zudem keine neuen oder unterwarteten Sicherheitsbefunden beobachtet werden. Die Rate an schweren Infektionen und Malignomen blieb stabil.
Lebenssituation beeinflusst Therapiewahl
Im nächsten Teil des Symposiums ging es um das Thema MS und Schwangerschaft. Bekannt ist, dass es während einer Schwangerschaft zu einer substanziellen Reduktion der Schubrate kommt [7]. Dies wird einerseits durch hormoninduzierte Veränderungen im mütterlichen Immunsystem erklärt. Andererseits interagieren fetale Antigene direkt mit dem mütterlichen Immunsystem und induzieren die Produktion regulatorischer T-Zellen [7]. Hinsichtlich der Therapiewahl bei MS-Patientinnen meinte Prof. Oh: «Die initiale Wahl eines Therapeutikums wird unter anderem dadurch beeinflusst, ob demnächst eine Schwangerschaft geplant ist oder nicht. Daneben muss die Patientin auch darüber informiert sein, bei welchen Therapeutika eine Auswaschperiode durchgeführt werden sollte und wie lange diese dauert.» Sie rief zudem in Erinnerung, dass zu den meisten verfügbaren Therapeutika aktuell noch nicht genügende Daten aus prospektiven Studien hinsichtlich Schwangerschaftsverlauf vorliegen würden. «Relativ umfangreiche und auch recht beruhigende Daten aus verschiedenen Registern liegen uns zu den älteren Substanzen – den Beta-Interferonen und Glatirameracetat – vor», so die Referentin.
Keine Richtlinien für Therapie älterer MS-Patienten
Zum Abschluss des Symposiums wurde schliesslich über die älteren MS-Patienten gesprochen. Eine Hypothese geht davon aus, dass sich bei diesen Patienten alters- und therapiebedingten Veränderungen des Immunsystems (super)additiv auswirken und die physiologischen Prozesse der Immunoseneszenz und des Inflamm-Aging dadurch beschleunigt werden [8]. Die Daten einer Meta-Analyse sprechen zudem für eine fehlende Wirkung von DMTs bei Patienten über 53 Jahren. «Die Resultate einer Subgruppen-Analyse der pivotalen Dimethylfumarat-Studien bei schubförmiger MS zeigten allerdings auch bei Patienten über 40 einen klaren Effekt auf verschiedene MRI-Parameter der Krankheitsaktivität», gab Prof. Oh zu bedenken. «Ähnliches konnte auch für Peginterferon beta-1a bei Patienten über 50 gezeigt werden, allerdings waren die Patientenzahlen hier relativ klein.» Als Vorgehen in der täglichen Praxis empfahl Prof. Oh, bei Patienten im Alter von 55+ eine DMT nur bei einer offensichtlich aktiven MS (klinisch und im MRI) zu starten. «Ist ein Patient über 55 oder 60 und erscheint unter einer DMT klinisch stabil, so gibt es leider keine guten Richtlinien dazu, ob hier die Therapie weitergeführt werden soll oder nicht.» Ebenfalls unklar sei, wie bei einem Patienten vorgegangen werden soll, wenn die Behinderung voranschreitet, obwohl es in der Bildgebung keine Hinweise auf Krankheitsaktivität gibt und auch keine Schübe auftreten. «Persönlich treffe ich hier von Fall zu Fall eine individuelle Entscheidung», so Prof. Oh.
Quelle: Symposium «From pediatric MS to immunosenescence – an interactive discussion.» 35thCongress of the European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis, 13. September 2019, Stockholm/S.
Literatur:
- Mexhitaj I et al. Abnormal effector and regulatory T cell subsets in paediatric-onset multiple sclerosis. Brain 2019; 142: 617–632.
- Chitnis T, et al.: Trial of Fingolimod versus Interferon Beta-1a in Pediatric Multiple Sclerosis. N Engl J Med 2018; 379: 1017–1027.
- Alroughani R, Boyko A: Pediatric multiple sclerosis: a review. BMC Neurol 2018; 18: 27.
- McGinley M, Rossman IT, et al.: Bringing the HEET: The Argument for High-Efficacy Early Treatment for Pediatric-Onset Multiple Sclerosis. Neurotherapeutics 2017; 14: 985–998.
- Kavaliunas A, et al.: Importance of early treatment initiation in the clinical course of multiple sclerosis. Mult Scler. 2017; 23: 1233–1240.
- Gold R, et al.: Overall Safety and Efficacy Through 10 Years of Treatment With Delayed-release Dimethyl Fumarate in Patients With Relapsing-Remitting Multiple Sclerosis. Ectrims 2019; Abstract P1397.
- Patas K, et al.: Pregnancy and multiple sclerosis: feto-maternal immune cross talk and its implications for disease activity. J Reprod Immunol 2013; 97: 140–146.
- Schweitzer F, et al.: Age and the risks of high-efficacy disease modifying drugs in multiple sclerosis. Curr Opin Neurol 2019; 32: 305–312.
InFo NEUROLOGIE & PSYCHIATRIE 2020; 18(1): 38–39 (veröffentlicht am 28.1.20, ahead of print)
Autoren
- Dr. Therese Schwender
Publikation
- INFO NEUROLOGIE & PSYCHIATRIE
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