Randomisierte, kontrollierte Studien sind weiterhin der zulassungsrelevante Goldstandard im Bereich von MS-Therapiestudien. «Real world observational data» aus grossen Kohorten oder Registern können für viele Fragestellungen aber wertvolle Ergänzungen liefern.
Mit zunehmenden Therapieoptionen für die Multiple Sklerose (MS) stellen sich relevante Fragen für die Therapieentscheidung, beispielsweise bezüglich der individuellen Prognose, der Substanzauswahl oder auch der Sequenz der angewandten Medikamente. Während Therapiestudien der höchsten Evidenzklasse die Zulassung neuer Substanzen begründen, können sie allerdings wichtige Fragen im klinischen Alltag nur sehr begrenzt beantworten. So gelten randomisierte, kontrollierte und doppelblinde Studien (RCT) als der «Goldstandard» für Therapiestudien. Im Bereich der MS setzte die Studie mit Interferon-beta 1b Anfang der 1990er Jahre mit diesen Qualitätsansprüchen sowie mit der Einbeziehung der Magnetresonanztomografie als objektiver Parameter einen Massstab für moderne Therapiestudien [1]. Während sich die Studienmethodologie stetig weiterentwickelt hat und die Studien entsprechend immer komplexer (und schwieriger) geworden sind, können RCT aber einige wichtige Fragestellungen kaum beantworten. So kann beispielsweise die Frage nach Patientengruppen, die besonders gut auf eine Therapie ansprechen, durch die Analyse (kleiner) Subgruppen nur sehr eingeschränkt beantwortet werden. RCT selektionieren auch bestimmte Patientengruppen, die nicht unbedingt repräsentativ für den klinischen Alltag sind. Die Ausschlusskriterien umfassen üblicherweise relevante Begleiterkrankungen, so dass meist junge, internistisch gesunde Patienten mit relativ hoher Krankheitsaktivität in entsprechende Studien aufgenommen werden. Häufig rücken zudem sog. «patient reported outcomes», die zunehmend Bedeutung auch für Kostenträger erhalten, in den Hintergrund. Daneben lässt die relativ kurze Studiendauer über zwei bis drei Jahre keine Aussagen zu Langzeitwirksamkeit und -sicherheit zu. Zu guter Letzt bieten zulassungsrelevante Phase III-Studien häufig keine Hilfestellung im direkten Vergleich verschiedener Substanzen. Eine Methode, die für diese Fragestellung zum Einsatz kommen kann, ist die Metaanalyse, bei indirektem Vergleich (Fehlen direkter Vergleichsstudien) von Substanzen die sog. Netzwerk-Metaanalyse. Allerdings liegen diesen Analysen häufig strikte Annahmen zugrunde, die entsprechend die Aussagekraft beeinträchtigen bzw. verzerren können [2].
«Real world»-Beobachtungsstudien
Zunehmend erfolgt die systematische Erfassung von Daten in grossen Kohortenstudien und Registern. Diese Beobachtungen grösserer Patientenkohorten erlauben Aussagen zum Einsatz verschiedener Substanzen im klinischen Alltag und können bei vielen der genannten Fragestellungen wertvolle Hinweise liefern [3]. Allerdings führt das Fehlen kontrollierter Bedingungen auch zu verschiedenen Möglichkeiten der Ergebnisverzerrung. In ausgeprägten Fällen kann dies dazu führen, dass beobachtete Unterschiede und Effekte fälschlich einer Substanz und nicht anderen (bekannten und unbekannten) prognostischen Faktoren zugeschrieben werden und somit Ergebnis eines Selektionseffekts sind. Während in klinischen Studien durch die Randomisierung a priori Therapiearme für Faktoren wie z.B. Schubrate oder MRI-Läsionslast ausbalanciert werden, ist dies in Beobachtungsstudien nur retrospektiv mithilfe statistischer Verfahren näherungsweise möglich. Ein solches jüngst vermehrt auch im Bereich der MS angewandtes Verfahren ist das «propensity score matching». Hierbei werden zu vergleichende Gruppen anhand verschiedener Charakteristika aneinander angeglichen. Typische prognosebestimmende Charakteristika bei der MS umfassen dabei beispielsweise die Schubrate oder die Krankheitsdauer. Der «propensity score» (Wahrscheinlichkeit, mit der ein Patient die zu prüfende Therapie erhält) wird dabei für jeden Patienten ermittelt und ermöglicht eine Vergleichbarkeit unterschiedlicher Gruppen. Allerdings ist diese Methode in besonderer Weise auf eine möglichst umfassende Erfassung von Daten angewiesen, die für die Erkrankung und Therapie relevant sind. Ebenso ist die Datenqualität, z.B. standardisierte Erfassung der neurologischen Behinderung, entscheidend. Daneben ist die Adjustierung vor allem für bekannte Störgrössen möglich. Daher sind alle statistischen Verfahren, die Verzerrungen der Vergleiche innerhalb von Beobachtungsstudien abmildern sollen, potenziell fehleranfällig. Auf der anderen Seite können diese Verfahren gerade bei grossen Datensätzen, z.B. im Rahmen internationaler Kohorten- oder Registerstudien, eine Vergleichbarkeit ermöglichen.
Entsprechende Fragestellungen, die sowohl in grossen monozentrischen als auch multizentrischen/multinationalen observationalen Kohorten bearbeitet wurden/werden, sind z.B. prognostische Faktoren in frühen Phasen der MS bzw. bei potenzieller Erstmanifestation der MS (klinisch isoliertes Syndrom) [3]. Daneben können Analysen grosser Kohorten einen wesentlichen Beitrag zur eindeutigen Definition von klinischen Phänotypen wie z.B. der sekundär chronisch progredienten MS leisten. So konnte mit den Daten von mehr als 17’000 Patienten des internationalen MSBase-Registers eine Definition basierend auf EDSS, «functional score» sowie Einschränkung im pyramidalen Funktionssystem erarbeitet werden, die mit hoher Genauigkeit und Reproduzierbarkeit innerhalb kurzer Beobachtungszeit (drei Monate) die Diagnosestellung einer SPMS erlaubt [4]. Diese exakte Definition hat dabei wiederum Relevanz für künftige RCT, die Konversion in die SPMS entweder als Einschlusskriterium oder Endpunkt aufweisen.
Eine für den klinischen Alltag hoch relevante Fragestellung beschäftigt sich mit potenziellen prognostischen Faktoren bezüglich des Ansprechens auf Immuntherapie. Aus solchen Studien resultieren quantitative Algorithmen zur Prognoseabschätzung unter laufender Immuntherapie [5,6]. So scheint die Kombination von Schüben mit MRI-Aktivität die beste Vorhersagekraft für ein Nichtansprechen auf Interferon-beta zu besitzen. Zusätzlich scheint auch isolierte MRI-Aktivität während des ersten Jahres einer Interferon-beta-Therapie für die Behinderungsprogression über drei Folgejahre relevant zu sein [6]. Allerdings ist die exakte Anzahl z.B. neuer T2-Läsionen bzw. der genaue Schwellenwert in unterschiedlichen Studien sehr variabel. Ob diese unterschiedlichen Schwellenwerte mit methodologischen Aspekten (z.B. Zeitpunkt der MRI-Untersuchungen, Wirklatenz der Medikamente, unterschiedliche Definition von Therapieansprechen) zusammenhängen oder ob tatsächlich ein Grad an zu tolerierender minimaler (subklinischer) Krankheitsaktivität existiert, ist dabei unklar. Dieses Beispiel zeigt aber auch, dass Ergebnisse aus retrospektiven Analysen grosser Datensätze durchaus hypothesengenerierend bezüglich zugrunde liegender Pathomechanismen sein können. Beispielsweise könnten mit der Übertragung solcher Ergebnisse über Interferone hinaus auf andere Substanzen Erkenntnisse zum postulierten Wirkmechanismus gewonnen werden (z.B. differenzielle Effekte auf die Bluthirnschranke im MRI und spätere Behinderungsprogression). Grosse Beobachtungsstudien haben auch pharmakoökonomische Implikationen, indem beispielsweise die Mehrzahl dieser Studien einen positiven Effekt einer frühen und konsequenten Immuntherapie auf die Langzeitbehinderung andeutet, was konsistent mit entsprechenden Langzeitdaten von Zulassungsstudien ist [3]. Auch in spezifischen klinischen Situationen (z.B. «Eskalation» einer Erstlinientherapie, Beendigung einer Natalizumab-Therapie) geben entsprechende grössere Beobachtungsstudien wertvolle Hinweise, die ansonsten nicht in RCT untersucht wurden. Zu guter Letzt haben grosse Krankheitsregister auch den Vorteil einer systematischen Erfassung der Langzeitsicherheit einzelner Medikamente im Vergleich zu anderen ähnlichen, aber andersartig behandelten Patientengruppen. Auch kann die Sicherheit von Therapiesequenzen besser als in kurzen RCT untersucht werden.
Fazit
Zusammenfassend sind randomisierte, kontrollierte Studien nach wie vor der Goldstandard, um die Wirksamkeit von Therapien zu untersuchen. Allerdings greift das starre Studiendesign für die Bedingungen des klinischen Alltags häufig zu kurz. Im Alltag sind viele Fragestellungen relevant, die nicht alle in randomisierten, kontrollierten Studien beantwortet werden können, sei es aus methodologischen, finanziellen oder ethischen Gründen. Während Metaanalysen ebenfalls starren Grundannahmen unterliegen und nur begrenzte Zusatzinformationen insbesondere zur Robustheit der Daten liefern, können sog. «real world observational»-Daten wertvolle Ergänzungen darstellen. Die bisherige Datenlage deutet an, dass randomisierte und grosse nicht-randomisierte Studien meist zu ähnlichen Ergebnissen führen. Daneben hat die Weiterentwicklung statistischer Methoden zum Ziel, die Validität der Modelle in grösseren MS-Kohorten zu belegen und gleichzeitig entsprechende weitere Störquellen zu minimieren. Dennoch trifft der Schritt der Übertragung der Ergebnisse auf Studienniveau/Gruppenlevel auf den einzelnen Patienten für alle Ansätze auf diverse Hindernisse. Wünschenswert wäre daneben die weitere Verbindung mit zusätzlichen paraklinischen Methoden oder Biomarkern (z.B. Neurofilament light als Biomarker der Neurodegeneration), die wiederum die klinischen Daten auch biologisch validieren können.
Take-Home-Messages
- Randomisierte, kontrollierte Studien (RCT) sind weiterhin der zulassungsrelevante Goldstandard im Bereich von Therapiestudien bei der Multiplen Sklerose.
- «Real world observational data» aus grossen Kohorten oder Registern können für viele Fragestellungen, die durch RCT nicht abgebildet werden, wertvolle Ergänzungen liefern.
- Die unterschiedlichen methodologischen Ansätze sind komplementär zueinander, es existieren weiterhin Schwierigkeiten in der Übertragung der Daten auf Studienniveau in Handlungsanweisungen für individuelle Patienten.
- Die systematische Weiterentwicklung grosser Datenbasen und ihrer statistischen und methodologischen Grundlagen («Big MS Data») gemeinsam mit weiteren Entwicklungen im Biomarkerbereich lässt auf wesentliche Fortschritte hoffen.
Literatur:
- IFNB Multiple Sclerosis Study Group: Interferon beta-1b is effective in relapsing-remitting multiple sclerosis. I. Clinical results of a multicenter, randomized, double-blind, placebo-controlled trial. Neurology 1993; 43: 655–661.
- Kiefer C, Sturtz S, Bender R: Indirect comparisons and network meta-analyses: estimation of effects in the absence of head-to-head trials – part 22 of a series on evaluation of scientific publications. Dtsch Arztebl Int 2015; 112: 803–808.
- Trojano M, et al.: Treatment decisions in multiple sclerosis – insights from real world observational studies. Nature Reviews Neurol 2017; 13: 105–118.
- Lorscheider J, et al.: Defining secondary progressive multiple sclerosis. Brain 2016; 139: 2395–2405.
- Sormani MP, et al.: Scoring treatment response in patients with relapsing multiple sclerosis. Mult Scler 2013; 19: 605–612.
- Sormani MP, et al.: Assessing response to interferon-β in a multicenter dataset of patients with MS. Neurology 2016; 87: 134–140.
InFo NEUROLOGIE & PSYCHIATRIE 2017; 15(4): 8–10
Autoren
- Dr. med. Anke Salmen
- Dr. med. Robert Hoepner
- Prof. Dr. med. Andrew Chan
Publikation
- INFO NEUROLOGIE & PSYCHIATRIE
Comments are closed.