Während sich die Inzidenz des ST-Hebungsinfarkt (STEMI) in den letzten Jahren als rückläufig erwiesen hat, ist bei den Nicht ST-Hebungsinfarkten (NSTEMI) eine Zunahme zu verzeichnen. STEMI und NSTEMI weisen einige Gemeinsamkeiten auf bezüglich initialem diagnostischem Work-Up, antithrombotischer Strategien und Sekundärprävention. Daher wurden in den von derEuropean Society of Cardiology (ESC) im vergangenen Jahr herausgegebenen ACS-Guidelines erstmals die Empfehlungen für NSTEMI und STEMI in einer Leitlinie zusammengefasst.
Ein akutes Koronarsyndrom (ACS) ist durch eine Minderperfusion des Myokards bedingt und äussert sich durch einen pektanginösen Thoraxschmerz, eventuell einhergehend mit vegetativen Symptomen. Bei Patienten mit Verdacht auf ein ACS sei möglichst innert 10 min nach Erstkontakt ein 12-Kanal-EKG durchzuführen, so Prof. Dr. med. Tanja Rudolph, Oberärztin der Klinik für Allgemeine und Interventionelle Kardiologie/Angiologie am Herz- und Diabeteszentrum Nordrhein-Westfalen. Für die kardiale Troponinkonzentration favorisiert die Referentin die Bestimmung des dynamischen hochsensitiven(hs)-Troponin-Anstiegs (0/1h-Algorithmus) [1]. Je höher der 0h-Wert oder die absolute Veränderung während der seriellen Probeentnahme ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen eines Myokardinfarktes [2]. Bei Patienten mit Herzstillstand oder hämodynamischer Instabilität ist unmittelbar nach dem 12-Kanal-EKG eine Echokardiografie durchzuführen. Wenn die Erstuntersuchung auf eine Aortendissektion oder eine Lungenembolie hindeutet, werden D-Dimere und eine CT-Angiografie (CCTA) empfohlen [2].
Abkürzungen |
CCTA = Coronary computed tomography angiography |
CMR = Cardiac magnetic resonance |
DOAC/DOAK = Directly acting oral anticoagulants |
MVD = Multi vessel disease |
NOAC/NOAK = Novel oral anticoagulants |
PCI = Percutaneous coronary intervention |
HBR = High bleeding risk |
nach [1,12] |
Invasives Management und Reperfusion bei STEMI und NSTEMI
Bezüglich STEMI (ST-Hebungs-Infarkt) gibt es in der neuen Leitlinie keine wesentlichen Änderungen: bei betroffenen Patienten soll innerhalb von 60 min nach Diagnosestellung in der Notaufnahme die Koronar-Revaskularisation erfolgen. Ist es nicht möglich, STEMI-Patienten innerhalb von 120 min einer perkutanen Koronarintervention (PCI) zuzuführen, ist eine innert 12 Stunden nach Einsetzen der Symptome erfolgende fibrinolytische Therapie indiziert [3]. «Beim NSTEMI ist es wichtig, dass die Patienten risikoadaptiert einer invasiven Behandlung zugeführt werden», betonte Prof. Rudolph [1]. Wenn ein NSTEMI mit sehr hohem Risiko («very high risk») (Tab. 1) vorliegt, sollen die Betroffenen möglichst innerhalb von 24 h einer invasiven Behandlung unterzogen werden. Die Empfehlung dieser als «early invasive strategy» bezeichneten Massnahme wurde von Klasse IA auf Klasse IIA downgegradet, da in Studien kein universeller Unterschied im Endpunkt der Mortalität nachweisbar war [4]. Allerdings sei es bei Patienten, bei welchen mehr Zeit verstrich bis zu einer invasiven Behandlung eher zu einem erneuten Auftreten von Ischämien gekommen und die Hospitalisationsdauer insgesamt habe sich als länger erwiesen, fügte die Referentin an [1].

ACS und Mehrgefässerkrankung
Viele ACS-Patienten weisen eine Mehrgefässerkrankung (MVD) auf. Bei Patienten mit MVD wird empfohlen, die Revaskularisierungsstrategie (Infarkt-bezogene Arterien-PCI, Multigefäss-PCI/koronare Bypass-Operation) entsprechend dem klinischen Status und den Komorbiditäten festzulegen. Mehrere Studien beschreiben einen Überlebensvorteil, wenn bei STEMI-Patienten mit MVD sogleich eine komplette Revaskularisation vorgenommen wird [5,6]. Dies wird auch von einer Metaanalyse und den im vergangenen Jahr veröffentlichten Ergebnissen der COMPLETE-Studie bestätigt [7]. Eine präventive Komplettsanierung der Koronarien konnte die Rate eines Reinfarkts (7,8% vs. 10,5%) oder Herz-Kreislauf-Tods (8,9% vs. 16,7%) signifikant senken im Vergleich zur Gruppe, in der nur die Stenose versorgt wurde [8]. BeiNSTEMI gibt es aktuell nur wenige Daten zum Nutzen einer kompletten Revaskularisation. Um Näheres darüber herauszufinden, wurde die grossangelegte, randomisierte COMPLETE-
NSTEMI-Studie lanciert (ClinicalTrials.gov: NCT05786131) [9].
Monitoring nach Revaskularisation
Bei ACS gelten der routinemässige radiale Zugang und die Verwendung von medikamentenbeschichteten Stents für die PCI als Standard. Intravaskuläre Bildgebung kann zur Steuerung der PCI und bei Patienten mit unklaren Läsionen in Betracht gezogen werden. Eine routinemässige Thrombusaspiration wird nicht empfohlen. Eine koronare Bypass-Operation ist bei Patienten mit einer verschlossenen Infarkt-bezogenen Arterie in Betracht zu ziehen, wenn eine PCI nicht durchführbar oder erfolglos ist und ein grosser Bereich des Myokards in Gefahr ist.
Nach der Reperfusion wird empfohlen, ACS-Patienten mit hohem Risiko – einschliesslich aller STEMI-Patienten – auf einer Intensivstation unterzubringen. Bei allen Hochrisikopatienten wird eine EKG-Überwachung auf Herzrhythmusstörungen und ST-Streckenveränderungen für mindestens 24 h nach Auftreten der Symptome empfohlen. Ausserdem wird dazu geraten, bei allen ACS-Patienten vor der Entlassung aus dem Krankenhaus die LVEF zu bestimmen.
Sekundärprävention nach einem ACS sollte jedem Patienten angeboten werden und so früh wie möglich nach dem Indexereignis beginnen. Sie umfasst kardiale Rehabilitation, Lebensstilmanagement und pharmakologische Behandlung und verbessert nachweislich sowohl die Lebensqualität als auch Morbidität und Mortalität.
Antithrombotische Therapie beim ACS Eine antithrombotische Therapie mit Plättchenhemmern und Antikoagulanzien ist bei allen ACS-Patienten angezeigt. Zusätzlich zu Aspirin wird ein P2Y12-Antagonist über einen Zeitraum von 12 Monaten empfohlen, sofern dies mit dem Blutungsrisiko (HBR) kompatibel ist. Bezüglich Wahl des P2Y12-Antagonisten werden Prasugrel und Ticagrelor gegenüber Clopidogrel bevorzugt empfohlen und Prasugrel ist Ticagrelor vorzuziehen für Patienten, welche einer PCI unterzogen werden. Eine Behandlung mit einem P2Y12-Antagonisten vor der Koronarangiografie kann bei Patienten mit STEMI, die sich einer primären PCI unterziehen, in Betracht gezogen werden, bei Patienten mit NSTEMI wird dies im Allgemeinen jedoch nicht befürwortet. Parenterale Antikoagulation wird für alle Patienten zum Zeitpunkt der Diagnose empfohlen. Das Absetzen der parenteralen Antikoagulation sollte unmittelbar nach dem invasiven Eingriff erwogen werden. Bei einigen Patienten mit ACS – meistens denjenigen mit Vorhofflimmern – besteht auch eine Indikation für eine langfristige Antikoagulation. Bei diesen Patienten wird zu folgendem Vorgehen geraten: Dreifachtherapie (DOAK, Aspirin plus P2Y12-Antagonist), gefolgt von einer Zweifachtherapie mit einem NOAK zur Schlaganfallprävention und einem einzelnen oralen Plättchenhemmer (vorzugsweise Clopidogrel). |
nach [1,12] |
Weitere Key messages der ESC-Leitlinie
Einen kompakten Überblick sämtlicher wichtiger Punkte und Anpassungen der 2023 erschienenen ESC-Leitlinie ist in dem 16-seitigen Dokument «Essential Messages from ESC Guidelines Clinical Practice Guidelines Committee» enthalten [3]. Neben den bereits erwähnten Aspekten wird Folgendes hervorgehoben:
Patienten mit Koronardissektion: «Nicht jede Koronardissektion bedeutet automatisch, dass Patienten mit einem STENT zu versorgen sind», so Prof. Rudolph [1]. Eine spontane Dissektion der Koronararterien ist mit einer Prävalenz von 0,1–4% eine seltene Ursache für ein ACS [10]. Mit einer Prävalenz von 8,7% sind junge Frauen eine Hochrisikopopulation [11]. In der aktuellen Leitlinie wird erstmals eine PCI bei Patienten mit spontaner Koronararteriendissektion lediglich dann empfohlen, wenn es Zeichen einer anhaltenden Myokardischämie, eines grossen gefährdeten Myokardareals und eines reduzierten anterograden Flusses gibt [4].
Subpopulationen von ACS-Patienten: Über 30% der ACS-Patienten weisen eine moderate oder schwere chronische Nierenerkrankung (CKD) auf, was gewisse Implikationen hat für die interventionelle und medikamentöse Behandlung. Auch bei Patienten mit einer Krebserkrankung gibt es einige Aspekte, die speziell berücksichtigt werden sollten.
Instabiles ACS: Eine primäre PCI-Strategie wird bei reanimierten Patienten nach Herzstillstand und einem EKG mit persistierender ST-Hebung (oder ST-Hebungs-Äquivalenten) empfohlen, während bei einem EKG ohne persistierende ST-Hebung (oder Äquivalenten) von einer sofortigen Angiografie abgeraten wird. Eine kontinuierliche Überwachung der Körperkerntemperatur und aktive Vorbeugung von Fieber (d.h. >37,7°C) wird bei Patienten mit Herzstillstand ausserhalb der Klinik empfohlen. Bei KHK als Komplikation eines ACS soll eine Notfall-Koronarangiografie organisiert werden, während der routinemässige Einsatz einer intraaortalen Ballongegenpulsation bei ACS-Patienten mit KHK, aber ohne mechanische Komplikationen nicht empfohlen wird.
MINOCA: Mit diesem Akronym labelt man Infarkte, bei denen das Myokard durch eine akute Ischämie geschädigt wird, ohne dass angiografisch relevante Koronarstenosen nachweisbar sind (Myokardinfarkt ohne obstruktive Atherosklerose). MINOCA ist eine Arbeitsdiagnose, die eine heterogene Gruppe zugrundeliegender Ursachen (kardiale und extrakardiale) umfasst und bei 1–14% der ACS-Patienten gefunden wird. Die kardiovaskuläre Magnetresonanztomografie (CMR) ist ein wichtiges diagnostisches Tool bei MINOCA. Die häufigsten Ursachen sind Plaquerupturen und/oder Koronarspasmen.
Kongress: DGK Cardio Update
Literatur:
- «KHK: Akutes Koronarsyndrom und Revaskularisation», Prof. Dr. med. Tanja Rudolph, DGK Cario Update, 23.–24.02.2024, Mainz.
- «Empfehlungen für die Akutversorgung», Deutsche Gesellschaft für Kardiologie (DGK), 2022, https://leitlinien.dgk.org, (letzter Abruf 06.05.2024)
- «Essential Messages from ESC Guidelines Clinical Practice Guidelines Committee», www.escardio.org, (letzter Abruf 06.05.2024)
- «Comments on the 2023 ESC guidelines for the management of acute coronary syndromes/ Comentarios a la guia ESC 2023 sobre el diagnostico y tratamiento de los sindromes coronarios agudos», Editorial, Revista Española de Cardiología (English Edition) 2024; 77(Issue 3): 201–205.
- Wald DS et al.: Randomized Trial of Preventive Angioplasty in Myocardial Infarction. N Engl J Med 2013; 369: 1115–1123 September 19, 2013. doi: 10.1056/NEJMoa1305520
- Bainey KR et al.: Complete vs culprit-only revascularization for patients with multivessel disease undergoing primary percutaneous coronary intervention for ST-segment elevation myocardial infarction: A systematic review and meta-analysis. American Heart Journal 2014; 167 (1): 1–14.e2.
- Bainey KR, et al.: Complete vs Culprit-Lesion-Only Revascularization for ST-Segment Elevation Myocardial Infarction A Systematic Review and Meta-analysis JAMA Cardiol. Published online May 20, 2020. doi:10.1001/jamacardio.2020.1251
- Oqab Z, et al.: Complete Revascularization Versus Culprit-Lesion-Only PCI in STEMI Patients With Diabetes and Multivessel Coronary Artery Disease: Results From the COMPLETE Trial. Circ Cardiovasc Interv 2023 Sep; 16(9): e012867.
- «Complete Revascularization Versus Culprit Lesion Only PCI in NSTEMI (CompleteNSTEMI)», https://classic.clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT05786131.
- Saw J: Spontaneous coronary artery dissection. Can J Cardiol 2013; 29(9): 1027–1033.
- «Koexistenz von kalzifizierten und lipidhaltigen Plaque-Komponenten und derenZusammenhang mit inzidentellen Rupturpunkten bei akuten Koronarsyndrom (ACS) verursachenden Culprit-Läsionen – Ergebnisse der prospektiven OPTICO-ACS-Studie», https://refubium.fu-berlin.de, (letzter Abruf 06.05.2024)
- Byrne RA, et al; ESC Scientific Document Group. 2023 ESC Guidelines for the management of acute coronary syndromes. Eur Heart J 2023; 44(38): 3720–3826.
HAUSARZT PRAXIS 2024; 19(5): 24–25 (veröffentlicht am 25.5.24, ahead of print)
CARDIOVASC 2024; 23(2): 40–41
Autoren
- Mirjam Peter, M.Sc.
Publikation
- HAUSARZT PRAXIS
- CARDIOVASC
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