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Die Osteoporose und ihre Folgen müssen glücklicherweise nicht mehr als nichtbehandelbares Schicksal hingenommen werden. Dank intensiver Forschung auf diesem Gebiet stehen heute viele Möglichkeiten zur Prävention, zum frühzeitigen Erkennen und zur Therapie zur Verfügung. Verschiedene, im zweiten Halbjahr 2012 veröffentlichte Studien haben sich speziellen Gesichtspunkten der Osteoporosebehandlung gewidmet.

Das Lebenszeitrisiko, eine osteoporotische Fraktur zu erleiden, beträgt für die Schweizer Frau im Alter von 50 Jahren 51,3%, für den Mann 20,2% [1, 2]. Osteoporotische Frakturen bringen neben Einschränkungen der Lebensqualität und der Funktionsfähigkeit im Alltag auch eine erhöhte Mortalität mit sich. Ausserdem erhöht jede Fraktur das Risiko für weitere Frakturen.

Bisphosphonate immer zusammen mit Vitamin D?

Praktisch alle Leitlinien empfehlen bei einer Bisphosphonattherapie eine gleichzeitige Kalzium- und Vitamin-D-Supplementation. Zusätzlich wurde in den meisten Bisphosphonatstudien zusätzlich Vitamin D verabreicht. Dies, obwohl man kaum etwas über die Rolle von Vitamin D in der Bisphosphonatbehandlung der Osteoporose weiss. Wird die Wirkung dieser Medikamente durch Vitamin D unterstützt, oder braucht es Vitamin D gar, damit sie ihre Wirkung entfalten können?

Um diese Fragen zu klären, untersuchte eine spanische Gruppe bei 140 konsekutiven postmenopausalen Patientinnen ihrer Osteoporose-Sprechstunde, inwiefern der Abfall der Knochenabbau-Marker unter Bisphosphonaten vom Vi-tamin-D-Blutspiegel abhängt [3]. Über drei Monate erhielten die Frauen entweder Aldendronat plus 25OHD3 (ALN+VitD) oder Alendronat (ALN) allein. Der Vitamin-D3-Spiegel stieg in der ALN+VitD-Gruppe erwartungsgemäss signifikant an und blieb in der ALN-Gruppe unverändert, während die Spiegel der Knochenabbau-Marker in der ALN+VitD-Gruppe signifikant stärker abfielen als in der ALN-Gruppe. Betrachtete man die Frauen mit einem Ausgangs-Vitamin-D-Spiegel >20 ng/ml und diejenigen mit einem Spiegel <20 ng/ml jedoch getrennt, fiel auf, dass bei letzteren die Knochenabbau-Marker in der ALN+VitD-Gruppe signifikant stärker abnahmen als in der ALN-Gruppe, während sich bei den Frauen mit normalen Vitamin-D-Spiegeln keine Unterschiede zwischen ALN+VitD und ALN fanden. Die Autoren schliessen daraus, dass die Vitamin-D-Supplementation bei einer Behandlung mit Bisphosphonaten nicht zwingend ist, da Frauen mit einem normalen Vitamin-D-Spiegel nicht von der Supplementation profitieren. Hingegen ist bei Frauen mit einem Vitamin-D-Mangel der Rückgang der Knochenabbau-Marker um etwa 25% grösser, wenn zusätzlich zu den Bi-sphosphonaten auch Vitamin D gegeben wird.

Beeinflusst die Osteoporosetherapie die ­Frakturheilung?

Da Bisphosphonate und der monoklonale Antikörper den osteoklastischen Knochenabbau hemmen, könnte sich – aus theoretischen Überlegungen – ein frühzeitiger Beginn der Osteoporosebehandlung nach einer Fraktur ungünstig auf die Frakturheilung auswirken. Dass dem nicht so ist, zeigen zwei, Ende 2012 publizierte Studien.

Gong et al. untersuchten 50 Frauen mit distaler Radiusfraktur, die osteosynthetisch behandelt werden mussten, und bei denen Osteoporose diagnostiziert wurde [4]. In Gruppe 1 wurde die Bisphosphonatbehandlung zwei Wochen postoperativ begonnen, in Gruppe 2 erst drei Monate postoperativ. Die klinischen und radiologischen Kontrollen zwei, sechs, zehn, 16 und 24 Wochen postoperativ zeigten bezüglich Frakturheilung keinerlei Unterschiede zwischen den beiden Gruppen. Aus diesem Grund empfehlen die Autoren dringend den frühzeitigen Beginn der Bisphosphonattherapie nach osteoporotischer Fraktur. In der geplanten Subgruppen-Analyse der placebokontrollierten 3-Jahres-FREEDOM-Studie, in welcher Denosumab bei postmenopausalen Frauen mit Osteo­porose untersucht wurde, fanden sich 667 Patientinnen mit nichtvertebralen Frakturen [5]. Auch hier gab es bezüglich der Frakturheilung keine Unterschiede zwischen der ­Verum- und der Placebogruppe, woraus die Autoren schliessen, dass Denosumab in einer Dosis von 60 mg alle sechs Monate weder die Frakturheilung beeinträchtigt, noch zu vermehrten Komplikationen führt, auch nicht, wenn es zum Zeitpunkt der Fraktur oder kurz davor oder danach gegeben wird.

Da bei vielen Frauen die Osteoporose erst anlässlich einer Fraktur diagnostiziert wird, ist es besonders wichtig, dass die behandelnden Orthopäden diesen Frauen die nachgewiesenermassen wirksame Behandlung mit Denosumab oder ­einem Bisphosphonat nicht aus Angst vor einer Beeinträch­tigung der Frakturheilung vorenthalten, sondern die medikamentöse Osteoporosebehandlung als festen Bestandteil der Frakturbehandlung betrachten.

Langzeittherapie

Die postmenopausale Osteoporose ist eine chronische Erkrankung und erfordert eine langfristige Behandlung, um das Frakturrisiko in Schach zu halten. Eine von der European Society for Clinical and Economic Aspects of Osteoporosis and Osteoarthritis (ESCEO) und der International Osteoporosis Foundation (IOF) durchgeführte Literaturübersicht zeigt, dass es erst wenige gute Studien gibt, die über die Langzeittherapie der Osteoporose Auskunft geben [6]. Folgende Ergebnisse fassen die Autoren zusammen:

  • Kalzium und Vitamin D sind bezüglich Frakturprävention wirksam. Über Nutzen und Risiken nach drei Jahren kann aufgrund der heutigen Datenlage aber nichts gesagt werden.
  • Für die selektiven Östrogen-Rezeptor-Modulatoren (SERM) kann über die Wirksamkeit bezüglich Frakturprävention nach mehr als fünf Jahren Behandlung nichts gesagt werden, hingegen scheint die Knochendichte kontinuierlich weiter zuzunehmen. Die Langzeitsicherheit der SERM ist gut, zudem schützen sie vor Mammakarzinom.
  • Nachgewiesenermassen reduzieren Bisphosphonate während drei Jahren das Frakturrisiko, für Alendronat und Risedronat gibt es auch entsprechende 4- und 5-Jahresdaten. Die Knochendichte nimmt bei Fortführen der Therapie über mehr als fünf Jahre offenbar weiter zu. Die Sicherheit der Bisphosphonate scheint, mit Ausnahme der atypischen subtrochantären Femurfraktur, auch über längere Zeit gewährleistet zu sein.
  • Für Denosumab gibt es 5-Jahres-Daten, die zeigen, dass der monoklonale Antikörper bei guter Sicherheit über die gesamte Zeit die Knochendichte stetig erhöht.

Behandlung der Kortikosteroid-induzierten Osteoporose

Die steroidinduzierte Osteoporose ist die häufigste sekundäre Form und die häufigste Osteoporoseform überhaupt bei jungen Erwachsenen. Der Knochenabbau beginnt bereits kurz nach Beginn der Steroidgabe und ist abhängig von der Dosis und der Dauer. Eine präventive Osteoporosebehandlung ist deshalb bei allen Patienten angezeigt, die eine tägliche Äquivalenzdosis von ≥7,5 mg Prednison über mindestens drei Monate erhalten. Nach heutiger Studienlage sind sowohl Bisphosphonate, als auch das anabole Parathormon Teriparatid dafür geeignet. Kalzium und Vitamin D sollten nur bei Mangelzuständen supplementiert werden. Allgemeine Osteo­porose-Vorsorgemassnahme für Patienten, die eine mindestens dreimonatige Steroidtherapie beginnen, sind in Tabelle 1 zusammengefasst.

Eine finnische Gruppe untersuchte in einer doppelblind randomisierten, placebokontrollierten Studie die Wirksamkeit und Sicherheit von Ibandronat in der Prävention der steroidinduzierten Osteoporose bei postmenopausalen Frauen mit entzündlich-rheumatischen Erkrankungen [8]. In der Ibandronat-Gruppe war die Knochendichte der lumbalen Wirbelkörper sechs und zwölf Monate nach Therapiebeginn signifikant höher als zu Beginn, nach zwölf Monaten ebenso im Trochanter, im Schenkelhals und in der gesamten Hüfte. Gleichzeitig nahmen in der Verumgruppe im Vergleich zur Placebogruppe die Knochenabbau-Marker ab. Nebenwirkungen traten in beiden Gruppen gleich häufig auf, wobei unter Ibandronat der Anteil schwerer Nebenwirkungen etwas grösser war. Die einmal monatliche Verabreichung von oralem Ibandronat ist somit eine wirksame und sichere Massnahme zur Prävention einer Osteoporose bei postmenopausalen Frauen unter niedrigdosierten Steroiden.

Osteoporose bei Männern

Die Osteoporose stellt auch für den Mann einen wichtigen Grund für Morbidität und Mortalität dar. Weltweit sind 40% der über 50-Jährigen, die eine osteoporotische Fraktur erleiden, Männer. Zudem ist die Mortalität nach osteoporotischen Frakturen bei Männern höher als bei Frauen. Diese Zahlen zeigen, wie wichtig es ist, die Osteoporose-Medikamente auch bei Männern zu untersuchen. Boonen und Mitarbeiter führten zu diesem Zweck eine grosse, multizentrische, doppelblind randomisierte und placebokontrollierte Studie mit Zoledronsäure bei 1199 Männer im Alter von 50–58 Jahren, mit primärer oder mit Hypogonadismus-assoziierter Osteoporose, durch [9]. In der Verumgruppe lag die Rate neuer morphometrischer Wirbelfrakturen während der 24 Monate dauernden Studie bei 1,6%, in der Placebogruppe bei 4,9%. Dies entspricht einer Risikoreduktion von 67% unter Zole-dronsäure. Die Männer in der Verumgruppe erlitten auch signifikant weniger mittelschwere bis schwere Wirbelfrakturen und signifikant weniger Höhenminderungen als die Placebogruppe. Zudem traten in der Zoledronat-Gruppe tendenziell weniger klinische Wirbel- und Nicht-Wirbelfrakturen auf, der Unterschied zur Placebogruppe war aufgrund der kleinen Fallzahl aber nicht signifikant. Unter Zoledronsäure nahm die Knochendichte signifikant mehr zu und die Knochenabbau-Marker signifikant mehr ab als unter Placebo. Bezüglich Mortalität und schweren Nebenwirkungen fanden sich keine Unterschiede zwischen den beiden Gruppen. Zoledronsäure eignet sich also auch bei Männern mit Osteoporose dazu, das Frakturrisiko zu senken.

FAZIT FÜR DIE PRAXIS

  • Patientinnen mit einem normalen Vitamin-D-Blutspiegel profitieren nicht zusätzlich, wenn die Bisphosphonate mit einer Vitamin-D-Supplementation ergänzt werden.
  • Die Osteoporosetherapie (Bisphosphonate, monoklonale ­Antikörper) haben keinen negativen Einfluss auf die Frakturheilung, weshalb mit dem Beginn der Behandlung nach einer osteoporotischen Fraktur nicht zugewartet werden sollte.
  • Patientinnen und Patienten, die über mindestens drei Mona­te niedrigdosierte Kortikosteroide erhalten, benötigen eine Osteoporoseprophylaxe.
  • Die Osteoporose ist nicht nur ein Problem der menopausalen Frau. 40% der osteoporotischen Frakturen bei über 50-Jähri­gen betreffen Männer.

Literatur:

  1. Lippuner K, et al.: Remaining lifetime and absolute 10-year probabilities of osteoporotic fracture in Swiss men and women. Osteoporos Int 2010; 21: 381–3898.
  2. Rizzoli R, et al.: Osteoporose in der Schweiz im Jahr 2008: eine Aufforderung zur Tat. Schweiz Med Forum 2008; 8(Suppl.45): 1–11.
  3. Olmos JM, et al.: Effects of 25-hydroxyvitamin D3 therapy on bone turnover markers and PTH levels in postmenopausal osteoporotic women treated with alendronate. J Clin Endocrinol Metab 2012; 97: 4491–4497.
  4. Gong HS, et al.: Early initiation of bisphosphonate does not affect healing and outcomes of volar plate fixation of osteoporotic distal radial fractures. J Bone Joint Surg Am 2012; 94: 1729–1736.
  5. Adami S, et al.: Denosumab treatment in postmenopausal women with ­osteoporosis does not interfere with fracture-healing: results from the FREEDOM trial. J Bone Joint Surg Am 2012; 94: 2113–2119.
  6. Cooper C, et al.: Long-term treatment of osteoporosis in postmenopausal women: a review from the European Society for Clinical and Economic Aspects of Osteoporosis and Osteoarthritis (ESCEO) and the International Osteoporosis Foundation (IOF). Curr Med Res Opin 2012; 28: 475–491.
  7. Briot K, Roux C.: Ostéoporose cortico-induite. Rev Med Interne 2012. Epub ahead of print.
  8. Hakala M, et al.: Once-monthly oral ibandronate provides significant ­improvement in bone mineral density in postmenopausal women treated ­with glucocorticoids for inflammatory rheumatic diseases: a 12-month, randomized, double-blind, placebo-controlled trial. Scand J Rheumatol 2012; 41: 260–266.
  9. Boonen S, et al.: Fracture risk and zoledronic acid therapy in men with osteoporosis. N Engl J Med 2012; 367: 1714–1723.
Autoren
  • Dr. med. Sabina M. Ludin 
Publikation
  • HAUSARZT PRAXIS 

Neben Faktoren wie Bewegung und Genetik spielt auch die Ernährung eine wichtige Rolle bei der Entstehung und Therapie der Osteo­porose. Die Vitamin D-, ­Kalzium- und Proteinzufuhr sind dabei elementar.

Der Proteinzufuhr als Komponente der Ernährung kommt bei Osteoporose eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu.

Proteinzufuhr

Nicht selten wurde behauptet, dass Proteine, insbesondere tierischer Herkunft, einen negativen Einfluss auf die Knochen­gesundheit haben. Diese Annahme beruhte unter anderem auf der Beobachtung einer erhöhten renalen Kalziumausscheidung nach eiweiss­rei­chem Essen. Proteine steigern die intestinale Kalziumaufnahme, was die damit verbundene Kalziurie erklärt. Kalzium wird also nicht, wie früher vermutet, durch Proteine aus den Knochen gelöst.

Im Gegenteil: Zahlreiche Studien stellen mittlerweile einen positiven Zusammenhang zwischen der Proteinzufuhr und der Knochendichte fest. Die Eidgenössische Ernährungskommission EEK empfiehlt älteren Menschen eine Proteinzufuhr von mindestens 0,8 g/kgKG/d (Tab. 1). Studien zeigen aber auch, dass eine relativ hohe Proteineinnahme von bis zu 1,5 g/kgKG/d eine positive Wirkung auf die Knochendichte und auf das Risiko von Hüftfrakturen ­hat.
 

Kalzium

Kalzium ist der wichtigste Baustein der Knochen. Um das Risiko für Osteoporose und auch darauf zurückzuführende Knochenbrüche zu verringern, müssen sowohl Vitamin D als auch Kalzium in ausreichender Menge zugeführt werden (Tab. 2 und 3).

Allgemeine Empfehlungen

Getränke: Täglich 1–2 Liter, bevorzugt in Form von ungesüssten Getränken, z.B. Trink-/Mineralwasser oder Früchte-/Kräutertee. Kalziumreiches Mineralwasser bevorzugen. Kaffee, Schwarztee/Grüntee und Cola-Getränke mit Zurückhaltung konsumieren.

Gemüse und Früchte: Täglich fünf Portionen in verschiedenen Farben, davon drei Portionen Gemüse und zwei Portionen Früchte. Eine Portion entspricht 120 g. Pro Tag kann eine Portion durch 2 dl ungezuckerten Frucht- bzw. Gemüsesaft ersetzt werden. Grüne Gemüse­sorten wie Broccoli, Mangold, Spinat, diverse Kohlarten und Blattgemüse sind gute Kalziumlieferanten.

Getreideprodukte, Kartoffeln und Hülsenfrüchte: Täglich drei Portionen. Bei Getreideprodukten Vollkorn bevorzugen. Eine Portion entspricht 75–125 g Brot/Teig oder 60–100 g Hülsenfrüchte (roh) oder 180–300 g Kartoffeln oder 45–75 g Knäckebrot/Vollkornkräcker/Flocken/Mehl/Teigwaren/Reis/Mais/andere Getreidekörner (Trockengewicht).

Milchprodukte, Fleisch, Fisch, Eier und Tofu: Täglich drei Portionen Milch bzw. Milch­produk­te. Eine Portion entspricht 2 dl Milch oder 150–200 g Joghurt/Quark/Hüttenkäse/andere Milchprodukte oder 30 g Halbhart-/Hartkäse oder 60 g Weichkäse.

Zusätzlich täglich eine Portion Fleisch, Geflügel, Fisch, Eier, Tofu, Quorn, Seitan, Käse oder Quark. Zwischen diesen Eiweisslieferanten abwechseln. Eine Portion entspricht 100–120 g Fleisch/Geflügel/Fisch/Tofu/Quorn/Seitan (Frischgewicht) oder 2–3 Eiern oder 30 g Halbhart-/Hartkäse oder 60 g Weichkäse oder 150–200 g Quark/ Hüttenkäse.

Öle, Fette und Nüsse: Täglich 2–3 Esslöffel (20–30 g) Pflanzenöl, davon mindestens die Hälfte in Form von Rapsöl. Täglich eine Portion (20–30 g) ungesalzene Nüsse, Samen oder Kerne (wie Haselnüsse, Mandeln, Baumnüsse, Sesamsamen, Sonnenblumenkerne etc.). Zu­sätzlich können sparsam Butter, Margarine, Rahm etc. verwendet werden (ca. 1 EL = 10 g/d).

Süsses, Salziges und Alkoholisches: Süssigkeiten, gesüsste Getränke, salzige Knabbereien und alkoholhaltige Getränke mit Mass geniessen. Gute Kalziumlieferanten sind Milch-, Joghurt- oder Quarkdesserts.

HAUSARZT PRAXIS 2015; 10(2): 7

Autoren
  • Steffi Schlüchter 
Publikation
  • HAUSARZT PRAXIS 

Eine aktuelle Studie zeigt, dass nicht nur Lupus erythematodes durch Fatigue-Symptomatik gekennzeichnet ist, sondern auch weitere Autoimmunerkrankungen mit kutaner Beteiligung.

Fatigue ist ein bekanntes Symptom von systemischem Lupus erythematodes (SLE), wurde aber bisher bei weiteren Autoimmunerkrankungen mit Hautbeteiligung wie beispielsweise kutanem Lupus erythematodes (CLE), amyopathischer Dermatomyositis (ADM) oder Blasenbildende Autoimmundermatosen (AIBD) noch nicht ausführlich untersucht. Eine im British Journal of Dermatology 2019 publizierte Studie zeigt, dass Fatigue häufiger vorkommt bei Patienten mit diesen Autoimmunerkrankungen im Vergleich zu einer gematchten Kontrollgruppe. Fatigue ist für die Betroffenen sehr belastend und führt oft zu einer Beeinträchtigung der Lebensqualität. Die Autoren raten Dermatologen dazu, Risikopatienten auf Fatigue-Symtpome zu screenen.

Die Forscher verwendeten Informationen von Patienten, deren Daten in prospektiven longitudinalen Registern erfasst waren: SLE (n=165), CLE (n=226), ADM (n=136), AIBD (n=79). Diese Angaben wurden mit jenen einer repräsentativen Kontrollgruppe (n=84) verglichen. Als Messinstrument wurde der Kurzfragebogen SF-36 eingesetzt.  Klinisch bedeutsame Fatigue-Problematik wurde operationalisiert als Score ≤35 in der Vitalitäts-Skala dieses Fragebogens. Die Auswertung ergab höhere Fatigue-Werte bei der Untersuchungsgruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe (p<0,05). Zudem zeigte sich, dass in der SLE-Subgruppe die Fatigue-Problematik am stärksten ausgeprägt war im Vergleich zu den anderen Patientensubpopulationen (p<0,05). Zwischen CLE, ADM und AIBD gab es keine signifikanten Unterschiede. Im Weiteren war beim Patientengesamtkollektiv ein höherer Anteil an klinisch signifikanter Fatigue-Symptomatik zu verzeichnen im Vergleich zur (SLE: 44,2%, CLE: 25,2%, ADM: 31,6%, AIBD: 24,1% vs. Kontrollgruppe: 2%; p<0,01). In der SLE-Subgruppe war ein höherer Anteil an klinisch signifikanter Fatigue-Problematik zu verzeichnen als in der CLE-Gruppe (p<0,01), aber es gab keine signifkanten diesbezüglichen Unterschiede zwischen SLE und ADM oder AIBD.

Quelle: https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1111/bjd.17962, https://doi.org/10.1111/bjd.17257, British Journal of Dermatology 2019; 180: 1468–1472.

DERMATOLOGIE PRAXIS 2019; 29(4): 44

Autoren
  • Mirjam Peter, M.Sc. 
Publikation
  • DERMATOLOGIE PRAXIS 

Seit der Coronapandemie ist die Zahl der Publikationen zur Fatigue-Symptomatik exponentiell angestiegen, was das aktuell sehr grosse Interesse an diesem Thema widerspiegelt. Als Begleitsymptom von Krebserkrankungen, aber auch anderen chronischen Krankheiten wie z.B. Autoimmunerkrankungen, ist die Fatigue-Symptomatik Ärzten schon länger bekannt. 

Seit der Coronapandemie ist die Zahl der Publikationen zur Fatigue-Symptomatik exponentiell angestiegen, was das aktuell sehr grosse Interesse an diesem Thema widerspiegelt. Als Begleitsymptom von Krebserkrankungen, aber auch anderen chronischen Krankheiten wie z.B. Autoimmunerkrankungen, ist die Fatigue-Symptomatik Ärzten schon länger bekannt. In diesem Artikel soll ausschliesslich auf Fatigue als Begleit-Symptom von Autoimmunerkrankungen, insbesondere von entzündlich-rheumatischen Erkrankungen eingegangen werden. Davon abzugrenzen ist das chronische Erschöpfungssyndrom (CFS) (Myalgische Encephalomyelitis ME), das in diesem Artikel nicht behandelt wird. 

Definition der Fatigue

Fatigue ist nicht gleichzusetzen mit dem landläufigen Verständnis von Müdigkeit und/oder Abgeschlagenheit. Patienten mit Fatigue klagen über ein unüberwindliches, oft sehr lange anhaltendes Gefühl der Müdigkeit, Erschöpfung und Antriebslosigkeit. Sie fühlen sich meist über einen längeren Zeitraum ohne jegliche Energie. Selbst körperlich leichte Tätigkeiten wie Kochen, Telefonate oder sonstige Alltagsaktivitäten werden als kaum durchführbar empfunden und durch ausreichende Ruhephasen (wie z.B. Schlaf und/oder Urlaub) nicht gebessert. Typischerweise steht die Erschöpfung nicht mit einer vorausgegangenen körperlichen/geistigen Anstrengung oder einer Belastung in einem direkten Zusammenhang. Die Fatigue macht sich nicht nur körperlich, sondern auch seelisch und geistig bemerkbar. Bei ausgeprägter Fatigue können daher auch sozialer Rückzug, Einschränkung vieler privater und beruflicher Tätigkeiten und letztlich eine erhebliche Abnahme der gesundheitsbezogenen Lebensqualität die Folgen sein. 

Fatigue bei Rheuma

Trotz bahnbrechender Fortschritte in der Behandlung rheumatischer Systemerkrankungen klagen auch heute 50–70% der Patienten mit rheumatoider Arthritis (RA) und 67–90% der Patienten mit einem systemischen Lupus erythematodes (SLE) im Krankheitsverlauf über eine Fatigue-Symptomatik, wobei ein Drittel der Patienten mit SLE eine ausgeprägte Fatigue-Symptomatik angibt [1,2]. Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Die Fatigue-Symptomatik hat auch eine grosse sozialmedizinische Bedeutung und ist u.a. auch ein Prädiktor für hohe (v.a. indirekte) Krankheitskosten, häufige Arztbesuche, lange AU-Zeiten und frühzeitige Berentungen [3]. 

Auch wenn das Symptom Fatigue schon lange bekannt ist, wurde es erstmals 2002 als wichtiger Patient-Reported-Outcome-Parameter (PRO) für klinische Studien in der Rheumatologie identifiziert und wird seit 2005 regelmässig in klinischen Studien erfasst [4].

Auch in der täglichen Praxis sollte das Symptom routinemässig erfragt und eine unspezifische Müdigkeit anamnestisch von einer typischen Fatigue-Symp­to­matik abgegrenzt werden. Leider gibt es bislang keinen Biomarker, mit dem sich die Fatigue-Symptomatik eindeutig und objektiv erfassen lässt. Insbesondere spielt auch das CRP bei Diagnose als Prädiktor für den 2- und 5-Jahres-Verlauf einer Fatigue-Symptomatik keine Rolle, wohl aber mentale Faktoren (wie z.B. Depressivität etc.). Da es sich um eine subjektive Symptomatik handelt, kommen in klinischen Studien in erster Linie unterschiedliche generische, aber auch krankheitsspezifische Fatigue-Fragebögen zum Einsatz, die auch die Differenzierung unterschiedlicher Dimensionen der Fatigue (z.B. körperliche, kognitive, emotionale Fatigue) erlauben. In der klinischen Praxis kann aus Zeitgründen gut mit einer Likert oder Fatigue-VAS-Skala gearbeitet werden. Ihr Einsatz ist dabei vor allem zur Verlaufsbeobachtung (z.B. unter Therapie) empfehlenswert.

Pathophysiologie

Die Pathophysiologie der Fatigue ist sehr komplex und im Detail noch nicht geklärt. Bei akuten Erkrankungen war die Verbindung von Entzündung und Fatigue ein evolutionärer Vorteil. Der Erkrankte ruhte sich aus, blieb zu Hause (minimierte also seine psychomotorische Aktivität), nahm wenig Nahrung zu sich und verwendete seine Energie ausschliesslich zur Infektabwehr. Wir sprechen hier auch von «Sickness behavior», einem adaptiven Rückzug- und Schonungsverhalten, das den Genesungsprozess förderte und deshalb einen evolutionären Vorteil darstellte. 

Der biologische Hintergrund liegt in Wirkungen der im Rahmen der Erkrankung ausgeschütteten proinflammatorischen Zytokine (TNF-alpha, Interkeukin-1 und Interleukin-6) auf das Gehirn. Diese Wirkungen wurden im Tiermodell ausführlich untersucht. Rezeptoren für Interleukin-1 beta finden sich in verschiedenen Regionen des Gehirns und Interleukin-1-beta-Injektionen in die Ventrikel können ein «Sickness behavior» (immunvermitteltes Krankheitsverhalten) auslösen. 

Bei chronischen Erkrankungen wie Autoimmunerkrankungen ist ein Zusammenhang der Fatigue-Symptomatik mit der Krankheitsaktivität ebenfalls unbestritten. Auch hier spielen die peripheren Wirkungen proinflammatorischer Zytokine wie Interleukin-1 beta, Interleukin-6, TNF-alpha u.a., aber auch deren proinflammatorische Wirkungen im ZNS mit Induktion einer zentralen Inflammation und «sickness behavior» (Müdigkeit, Depressivität, Ängstlichkeit, Appetitlosigkeit, kognitive Einbussen) eine wichtige Rolle. Die komplexen Zusammenhänge zwischen Entzündung, cerebralen Metaboliten (ATP, NADH, Hexokinase u.a.), neurovaskulären Faktoren und der Wirkung distinkter Neurotransmitter in bestimmten Hirnarealen und dem Auftreten von Fatigue werden dabei zunehmend besser verstanden [5]. 

Wie also zu erwarten, führt eine rasche und effektive Therapie der Grunderkrankung (z.B. mit TNF-Antagonisten) meist auch zu einer Besserung der Fatigue. Allerdings ist die Assoziation zwischen Fatigue und Krankheitsaktivität bei rheumatischen Erkrankungen meist nur schwach [6]. Ein nicht geringer Teil von Patienten leidet trotz vorliegender Remission/niedriger Krankheitsaktivität weiterhin an einer Fatigue. Häufig trifft dies auf Patienten zu, bei denen bereits zu Krankheitsbeginn eine geringe objektive Krankheitsaktivität (z.B. keine Entzündungskonstellation, keine Gelenkschwellungen etc.) und eine hohe Globalbewertung durch die Patienten z.B. im SDAI vorlag [7]. 

Es müssen also auch noch andere Faktoren bei der Entstehung einer Fatigue-Symptomatik von Bedeutung sein. So korrelieren beispielsweise Schmerzen und Depressivität sehr gut mit der Fatigue-Symptomatik. Fatigue ist daher beim Patienten mit einer entzündlich-rheumatischen Grunderkrankung ein multidimensionales Phänomen. Neben der eigentlichen rheumatischen Grunderkrankung können zahlreiche andere Faktoren wie z.B. Komorbiditäten, Lebensstil, psychosoziale Faktoren sowie auch ein bei rheumatischen Erkrankungen häufig auftretendes sekundäres Fibromyalgie-Syndrom mitursächlich sein. Letzteres manifestiert sich nicht nur mit Schmerzen, sondern meist auch mit Schlafstörungen, die die Fatigue zusätzlich verstärken können (Abb. 1).

Diagnose

Klagt ein Patient über Fatigue, so sollten zunächst immer auch andere (evtl. gut behandelbare) Ursachen ausgeschlossen werden. So kann die Fatigue-Symptomatik auch durch die medikamentöse Therapie mit Antihypertensiva (β-Blocker, Diuretika), Antihistaminika, Benzodiazepine etc. bedingt sein. Auch eine Anämie kann zu einer Fatigue führen und durch eine Therapie (z.B. bei Eisenmangel, Vitamin-B12-Mangel) gut therapierbar sein. Selbst sehr häufig eingesetzte Rheuma-Medikamente wie MTX können als Nebenwirkung beim Patienten Fatigue auslösen, die sich nach Absetzen des Medikamentes zurückbilden kann. Ein Mangel an Vitamin D, wie er häufiger bei Patienten mit rheumatischen Erkrankungen beobachtet wird, wurde ebenfalls mit Fatigue in Zusammenhang gebracht, auch wenn die Datenlage diesbezüglich umstritten ist. In einer kleinen Beobachtungsstudie mit 80 Patienten mit Vitamin-D-Mangel konnte die assoziierte Fatigue durch Vitamin-D-Supplementation gebessert werden [8]. Weitere Ursachen für eine Fatigue-Symptomatik, die nicht mit der Grunderkrankung zusammenhängen (z.B. Stoffwechselstörungen), sind in Tabelle 1 aufgeführt. 

Therapie

Liegt eine aktive rheumatische Erkrankung vor, so sollte frühzeitig eine effektive leitliniengereichte Therapie eingeleitet werden. Das therapeutische Spektrum hat sich in den letzten Jahrzehnten erheblich erweitert. Neben den klassischen csDMARDs (conventional synthetic Disease-Modifying-Antirheumatic Drugs) wie z.B. Methotrexat, Leflunomid bei der RA oder Hydroxychloroquin beim SLE kommen heute bereits frühzeitig bDMARDs (sog. Biologika, «biological DMARDS») wie Tumornekrosefaktor-alpha(TNF-alpha)-Antagonisten, Interleukin-6-Rezeptorantagonisten u.v.a. zum Einsatz. Seit wenigen Jahren gibt es zudem mit den tsDMARDS (targeted synthetic DMARDs) eine neue Substanzgruppe, zu der z.B. die Januskinase(JAK)-Inhibitoren gehören. 

Ziel der Therapie rheumatischer Erkrankungen ist eine Remission bzw. möglichst niedrige Krankheitsaktivität. Dies gilt für alle entzündlich-rheumatischen Erkrankungen. Um diese zu erreichen, ist eine engmaschige Kontrolle und ggf. rasche Therapieanpassung erforderlich. In den meisten Fällen wird sich die Fatigue mit Besserung der Krankheitsaktivität bessern [9], obwohl die Assoziation zwischen Krankheitsaktivität und Fatigue nicht sehr ausgeprägt ist. Eine Cochrane-Analyse konnte nur kleine bis moderate Verbesserungen der Fatigue bei aktiver RA durch Biologika-Therapie nachweisen [10]. Zwischen TNF-Antagonisten und anderen Biologika fanden die Autoren im Hinblick auf die Besserung der Fatigue keinen Unterschied. Der gute analgetische Effekt von JAK-Inhibitoren könnte evtl. erklären, dass diese im Vergleich zu einem TNF-Antagonisten (Adalimumab) in einer Studie eine bessere Wirkung auf die Fatigue-Symptomatik bei Patienten mit RA hatten [11]. Begleitend zur spezifischen medikamentösen Rheumatherapie sollte immer auch eine ausführliche Medikamenten-Anamnese erhoben werden, um Fatigue-auslösende/-verstärkende Medikamente möglichst abzusetzen. Komorbiditäten (z.B. Niereninsuffizienz, COPD etc.) müssen ebenfalls erfasst und am besten interdisziplinär konsequent behandelt werden.

Da auch Faktoren wie Schmerzen, Depressivität und Schlafstörungen von pathophysiologischer Relevanz sein können, ist vermutlich nur eine multimodale Therapie dauerhaft erfolgreich. Körperliche Aktivität und psychologische Interventionen können die Fatigue-Symptomatik günstig beeinflussen. So gingen in eine bereits 2013 publizierte Cochrane-Analyse 6 Studien mit insgesamt 388 Patienten mit RA ein. Durch körperliche Aktivität besserte sich die Fatigue um 14 Punkte auf einer VAS-Skala 0–100 im Vergleich zu Kontrollgruppe. Die Number needed to treat (NNT) um einen günstigen Effekt zu erzielen war [12]. 

Kürzlich wurde eine weitere prospektive randomisierte dreiarmige Studie publiziert, in der die Wirksamkeit der kognitiven Verhaltenstherapie und personalisierte Übungsprogramme mittels telekommunikativer Anleitung untersucht wurden. Es wurden 274 Frauen und 92 Männer mit unterschiedlichen entzündlich-rheumatischen Erkrankungen eingeschlossen. Nach einem Jahr verbesserte sich im Vergleich zur normalen Betreuung sowohl bei der kognitiven Verhaltenstherapie als auch beim personalisierten Übungsprogramm die Fatigue-Symptomatik [13]. Insgesamt ist allerdings die Studienlage zur Wirksamkeit der körperlichen Aktivität auf Fatigue bei entzündlich-rheumatischen Erkrankungen noch gering. 

Allerdings gibt es bereits eine Vielzahl von Studien bei onkologischen Patienten, die eine Besserung der Fatigue durch Steigerung der körperlichen Aktivität zeigen konnten. Ein Mehr an körperlicher Aktivität erhöht nicht nur die kardiopulmonale Belastbarkeit, sondern hat auch zahlreiche positive psychosoziale Effekte wie geringere Depressivität, weniger Angst, mehr soziale Kontakte und letztlich auch besseren Schlaf zur Folge. Schlafstörungen sollten regelmässig mit Betroffenen thematisiert und auf Massnahmen zur Schlafhygiene, ggf. auch auf eine erweiterte Schlaf-Diagnostik hingewiesen werden. Auch Stress sollte mit den Betroffenen thematisiert werden. Hier zeigte eine kürzlich publizierte Studie bei 650 überwiegend weiblichen (92%) SLE-Patienten, dass Stress ein signifikanter Prädiktor für das Auftreten von Fatigue im Krankheitsverlauf ist und damit ebenfalls ein poten­ziell wichtiger therapeutischer Ansatzpunkt ist [14]. Was psychosoziale Interventionen anbelangt (Mind-Body-Medicine, Achtsamkeitsinterventionen, Yoga, Psycho­edukation etc.), gibt es für Rheuma­patienten nur wenige Studien, was auch auf die geringe finanzielle Förderungsbereitschaft zurückzuführen sein dürfte. Allerdings gibt es bei onkologischen Erkrankungen zwischenzeitlich ausreichend Evidenz, dass Fatigue durch körperliche Aktivität und psychosoziale Massnahmen gebessert werden kann [15]. Dabei kann auch eine multimodale komplexe Rehabilitationsmassnahme zu einer signifikanten Besserung der Fatigue und Lebensqualität führen, wie wir in eigenen Studien zeigen konnten [16,17]. Für Rheuma-Patienten stehen solche Studien leider bislang noch weitgehend aus.

Take-Home-Messages

  • Fatigue ist bei entzündlich-rheumatischen Erkrankungen ein häufiges Symptom und sollte regelmässig anamnestisch ­erfasst werden.
  • Fatigue ist mit der Krankheitsaktivität, vor allem mit Schmerz und mentalen Faktoren wie Depressivität, assoziiert.
  • Die Therapie umfasst die konsequente medikamentöse Therapie der Grunderkrankung, aber auch nicht-medikamentöse Massnahmen.

Literatur:

  1. Hewlett S, Cockshott Z, Byron M, et al.: Patients’ Perceptions of fatigue in rheumatoid arthritis: overwhelming, uncontrollable, ignored. Arth Rheum 2005; 53: 697–702.
  2. Pollard LC, Choy HE, Gonzalez J, et al.: Fatigue in rheumatoid arthritis reflects pain, not disease activity. Rheumatology 2006; 45: 885–889.
  3. Baker K, Pope J: Employment and work disability in systemic lupus erythematosus: a systematic review. Rheumatology 2014; 48: 281–284.
  4. Kirwan JR, Ahlen M, DeWit M, et al.: Progress since OMERACT 6 on including patients perspective in rheumatoid arthritis outcome assessment. J Rheumatol 2005; 32(11): 2246–2249.
  5. Zielinski MR, Systrom DM, Rose NR: Fatigue, Sleep, and Autoimmune and related Disorders. Front Immunol 2019; doi: 10.3389/fimmu.2019.01827.
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InFo RHEUMATOLOGIE 2023; 5(2): 8–11

Autoren
  • Prof. Dr. med. Monika Reuß-Borst 
Publikation

INFO RHEUMATOLOGIE 

Die TNF-Inhibition bringt bei r­heumatoider Arthritis viele Vorteile, doch ist sie womöglich auch mit einer erhöhten Gefahr für ein Tumor­rezidiv verbunden. Ob dies der Fall ist, versucht eine Studie mit ehemaligen Mamma­karzinom-Patientinnen zu erörtern.

(ag) Es ist unbestritten, dass TNF-Blocker zu einem grossen Fortschritt in der Therapie der rheumatoiden Arthritis führten. Entzündungsaktivität und allgemeine Symptome lassen sich damit sehr gut kontrollieren – dies in relativ kurzer Zeit, bei relativ gutem Nebenwirkungsprofil und auch bei Patienten, die nicht auf klassische Basismedikamente ansprachen. Natürlich finden sich auch Unzulänglichkeiten wie hohe Kosten, Infektionsgefahr und unzu­reichendes Ansprechen. Unterm Strich profi­tieren jedoch viele Patienten von dieser Substanzklasse. Nicht mit letzter Sicherheit geklärt ist, ob zu den Negativ­auswirkungen der anti-TNF-Therapie auch ein erhöhtes Rezidiv­risiko bei Krebs zu zählen ist.

Früheres Mammakarzinom – droht ein Rezidiv?

Eine neue Studie, publiziert in den Annals of the Rheumatic Diseases, untersuchte den Zusammenhang zwischen Rezidiv und anti-TNF-Therapie, und zwar bei Patientinnen mit rheumatoider Arthritis und einem Mammakarzinom in der Krankengeschichte. Als Datengrundlage dienten Register. Mehrere prognostische Faktoren im Zusammenhang mit Brustkrebs, rheumatoider Arthritis und Komorbiditäten wurden in die Analyse miteinbezogen.

Die Studienpopulation bestand aus 120 Pa­­tientinnen unter anti-TNF-Therapie und 120 gematchten Biologic-naiven Frauen. Die Kranken­­geschichte (Auftreten/Streuung des Mammakarzinoms) war in beiden Gruppen vergleichbar, ausserdem befanden sich alle untersuchten Frauen in Remission. Als primären Endpunkt wählte man das erste Mamma­kar­zinom-Rezidiv.

Keine Risikoerhöhung gefunden

Zwischen TNF-Inhibition und Brustkrebsdiagnose lagen im Median 9,4 Jahre. Die Zeit der Nachbeobachtung seit Start der TNF-Inhibition betrug 4,9 Jahre (und 4,6 Jahre in der anderen Gruppe).

  • Im Arm mit TNF-Inhibition entwickelten neun Patientinnen ein Rezidiv (Inzidenzrate 15/1000 Personenjahren)
  • Im Arm ohne eine solche Therapie entwickelten ebenfalls neun Frauen ein Rezidiv (Inzidenzrate 16/1000 Personenjahren)
  • Die dazugehörige angepasste Hazard-Ratio betrug 1,1 (95% KI 0,4–2,8).

Die Autoren folgern, dass Betroffene von rheumatoider Arthritis und mit einer Brustkrebs-Krankengeschichte keinem erhöhten Rezidiv­risiko durch eine TNF-Inhibition ausgesetzt sind. Natürlich limitiere die kleine Studienpopulation den Aussagewert deutlich. Ob sich die Resultate auf Frauen mit sehr schlechter Prognose oder auf solche, die erst kürzlich an Brustkrebs litten, ausdehnen lassen, sei zudem völlig offen.

Quelle: Raaschou P, et al.: Ann Rheum Dis 2014;  [Epub ahead of print].

InFo ONKOLOGIE & HÄMATOLOGIE 2014; 2(9): 4
Autoren
  • Andreas Grossmann 
Publikation
  • INFO ONKOLOGIE & HÄMATOLOGIE 

Es wäre ein Traum: Patienten im Frühstadium einer Rheuma­toiden Arthritis (pre-RA) zu erkennen und durch effizientes Gegensteuern die Manifestierung der Erkrankung zu verhindern. Ist dies auch realistisch? Bei einem Symposium während des Kongresses der European League Against Rheumatism (EULAR) im Juni 2017 in Madrid wurden die Chancen in verschiedenen Risikogruppen diskutiert. 

«Die akkurate Vorhersage einer Krankheitsentwicklung gilt als Heiliger Gral der Risikofaktorforschung», sagte Dr. Diane van der Woude von der Rheumatologischen Universitätsklinik Leiden in den Niederlanden. Bei einer vergleichsweise seltenen Erkrankung wie der Rheumatoiden Arthritis (RA) mit einer Prävalenz von rund 1% wird die Vorhersage zumindest in der Allgemeinbevölkerung zu einem Kunststück, das kaum gelingen kann. Bei Teilnehmern der Nurses‘ Health Study sei versucht worden, anhand von genetischen und Umweltfaktoren sowie Autoantikörpern im Blut das RA-Risiko abzuschätzen, berichtete van der Woude, allerdings mit nur begrenztem Erfolg. «Bei einem ganz geringen Erkrankungsrisiko braucht man einen unglaublich guten Biomarker», betonte die Rheumatologin. Deshalb konzentrieren sich derzeit die Präventionsstrategien auf Personengruppen mit Zeichen und Symptomen einer rheumatologischen Erkrankung.

Bei der Entwicklung einer RA werden von der EULAR sechs Phasen unterschieden [1] (Tab. 1). Die Phasen A und B kennzeichnen ein erhöhtes Risiko aufgrund genetischer und Umgebungsfaktoren. Es wurden bisher mehr als 100 genetische Risikofaktoren für RA identifiziert, vor allem Varianten im HLA (human leucocyte antigen)-System, berichtete Dr. René Toes, ebenfalls in Leiden tätig. Der ­genetische Anteil am Ausbruch einer RA wird laut van der Woude auf etwa 40% geschätzt. Zu berücksichtigen sind nach ihren Angaben nicht nur Risiken bestimmter Genvarianten, sondern auch protektive Effekte. Unter den Umweltfaktoren hat Rauchen die höchste Bedeutung, insbesondere bei seropositiven Patienten. Der Einfluss von Rauchen bezogen auf das Gesamtrisiko wird auf 25%-35% geschätzt. Als weitere Einflussfaktoren, die das RA-Risiko erhöhen könnten, werden geringer Ausbildungslevel, hohes Geburtsgewicht, Übergewicht, Umweltverschmutzung, hormonelle Faktoren und Periodontitis diskutiert. Einen protektiven Effekt haben möglicherweise moderater Alkoholkonsum und Stillen [2].

Vor allem eine Veröffentlichung zum möglichen Zusammenhang zwischen einer Periodontitis und einer RA im vergangenen Jahr hat für großes Aufsehen gesorgt [3]. Vermutet wurde, dass das bei Periodontitis-Patienten in der Mundhöhle häufig nachweisbare Bakterium Aggregatibacter actinomycetemcomitans, das Leukotoxin A sezerniert (LtxA), Autoimmunprozesse anstossen könnte, berichtete van der Woude. Tatsächlich wurden bei RA-Patienten bereits gehäuft anti-LtxA-Antikörper nachgewiesen; allerdings sei laut neueren Studie wieder unklar, ob LtxA bei der Entwicklung einer Autoimmunität tatsächlich eine Rolle spielten.

Die systemische Autoimmunität kennzeichnet Phase C der RA-Entwicklung. Autoantikörper wie ACPA (Anti-Citrullinated Protein Antibodies) können häufig bereits Jahre vor der Entwicklung von RA-Symptomen nachgewiesen werden, berichtete Toes, sind aber ebenfalls zu unspezifisch für die Vorhersage einer RA. Es gibt vermutlich zwei mit Autoantikörpern assoziierte Schritte bei der RA-Entwicklung. In der ersten Phase kommt es womöglich über Umgebungsfaktoren zur ACPA-Bildung. Erst in der zweiten Phase, die über eine Interaktion mit HLA-Molekülen ausgelöst wird, wird dann die weitere Progression zu einer RA in Gang gesetzt. Zu berücksichtigen dabei: Autoantikörper inklusive Rheumafaktor werden nur bei 60%–70% der RA-Patienten nachgewiesen.

Vielversprechend erscheinen Präventionsbemühungen bei Patienten, die bereits rheumatologische Symptome (Phase D) entwickelt haben bzw. bei denen eine noch nicht klassifizierbare Arthritis (Phase E) vorliegt und die im weiteren Verlauf häufig eine manifeste RA entwickeln (Phase F).

Bei klinischem Verdacht auf eine Arthralgie sprechen nach Angaben der EULAR folgende Kriterien für ein hohes Progressionsrisiko, so van der Woude:

  • Symptome in den Fingergrundgelenken
  • (MCP-Gelenke) oder Druckempfindlichkeit
  • Morgensteifigkeit >60 Minuten
  • Stärkste Symptomatik am Morgen
  • Schwierigkeiten, eine Faust zu machen
  • Verwandte ersten Grades mit RA.

Bewährt hat sich auch ein Vorhersagemodell einer RA, das in den Niederlanden entwickelt worden ist und auf 9 Biomarkern beruht, darunter vor allem klinische Kriterien (Symptombeginn <12 Monate, Symptome in den oberen und unteren Extremitäten, Schmerzintensität VAS >50 mm, geschwollene Gelenke) und Laborparameter (Rheumafaktor-, ACPA-positiv). Patienten mit hohem Score hatten in den nächsten ein bis fünf Jahren ein sehr hohes Risiko, eine manifeste RA zu entwickeln, berichtete Dr. Kevin Deane von der Universität von Kalifornien in Aurora. Er empfahl, bei solchen Patienten frühzeitig zu intervenieren, um die Entwicklung einer RA zu verhindern oder zumindest zu verzögern.

An erster Stelle stehen Lebensstilinterventionen wie Rauchstopp, eventuell hätte auch die Zufuhr von Omega-3-Fettsäuren einen günstigen Effekt, so Deane. Untersucht wird in Studien bei Patienten mit deutlich erhöhtem RA-Risiko auch bereits der Einsatz klassischer RA-Medikamente wie Methotrexat (MTX) und Hydroxychloroquin, sogar von Biologika. In einer Meta-Analyse der Daten von 7 randomisierten kontrollierten Studien bei insgesamt 800 Patienten mit undifferenzierter Arthritis oder ACPA-positiven Arthralgien wurde der Nutzen einer einjährigen Therapie mit MTX, Methylprednison, mit einem TNF-Blocker, Abatacept oder Rituximab dokumentiert. Das RA-Risiko bei Studienende nach einem Jahr war in den Verumgruppen im Mittel im Vergleich zu Placebo um 28% verringert [4].

In den USA läuft zur Zeit die StopRA-Studie bei Patienten mit mindestens zweifach erhöhten APCA-Werten und einem geschätzt 50%igen Risiko, in den nächsten drei Jahren eine RA zu entwickeln. Die Patienten der Verumgruppe werden über ein Jahr mit Hydroxychloroquin behandelt, anschließend wird das RA-Risiko über weitere zwei Jahre im Vergleich zur Kontrollgruppe beobachtet. Es besteht die Hoffnung, durch die vorübergehende Immuntherapie ein Reset des Immunsystems zu erreichen, sagte Deane. Die ersten Daten stimmen hoffnungsvoll, allerdings seien noch weitere Studien und mehr Erkenntnisse zur Pathophysiologie der RA notwendig.

Quelle: EULAR 2017, Madrid; Session«From pre-RA to established RA», 16. Juni 2017

Literatur:

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HAUSARZT PRAXIS 2017; 12(7): 40–41

Autoren
  • Roland Fath 
Publikation
  • HAUSARZT PRAXIS 

Gemäss aktueller epidemiologischer Daten gibt es Hinweise auf ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko bei Psoriasis und Psoriasis-Arthritis. Um bei diesen Patienten adäquate Primär- und Sekundärprävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen durchzuführen, ist interdisziplinäre Zusammenarbeit etwas sehr Wichtiges.

(red) Psoriasis ist durch die veränderte Proliferation und Differenzierung von Keratinozyten und Hautentzündungen gekennzeichnet, wobei sowohl das angeborene als auch das adaptive Immunsystem beteiligt sind und hauptsächlich von pathogenen T-Zellen angetrieben werden, die als Antwort auf IL-23 hohe Interleukin-Spiegel (IL-17) produzieren.  
Die zentrale pathophysiologische Rolle der IL-23/IL-17A-Achse bei Psoriasis wurde durch den therapeutischen Erfolg mit zielgerichteten monoklonalen Antikörpern bestätigt. Die Wirkung von Antagonisten des Tumornekrosefaktors α (TNF) wird wahrscheinlich indirekt ausgeübt, da TNF ein vorgelagerter Induktor von IL-23 ist und synergistisch mit IL-17 wirkt und die Hochregulation vieler mit Psoriasis in Zusammenhang stehender proinflammatorischer Gene in Keratinozyten erhöht [1].

Hypothesen zu genetischen und/oder epigenetischen Faktoren

TNF und andere Entzündungsmediatoren können einen Zustand chronischer systemischer Entzündungen aufrechterhalten, der Insulinresistenz, endotheliale Dysfunktion und Herz-Kreislauf-Erkrankungen [2] sowie eine zunehmende Anzahl von Begleiterkrankungen, einschliesslich metabolischem Syndrom, chronische Nierenerkrankungen, Magen-Darm-Erkrankungen, Stimmungsstörungen und maligne Erkrankungen hervorrufen können.

Im Gegensatz zu Psoriasis-Arthritis (PsA) und Morbus Crohn, die genetisch bedingte Pathomechanismen mit Psoriasis gemeinsam haben, würde also die chronische Entzündung die Grundlage für die kardiovaskulären und metabolischen Komorbiditäten der Psoriasis bilden.

Andererseits sind Gemeinsamkeiten zwischen Psoriasis und einigen Begleiterkrankungen hinsichtlich auf Gene/Proteine, biologische Prozesse und Signalwege bekannt. So führte der Typ-2-Diabetes den molekularen Komorbiditätsindex an, gefolgt von rheumatoider Arthritis, Alzheimer-Krankheit, Myokardinfarkt und Adipositas [3]. Anstelle genetischer Assoziationen kann auch ein ungünstiger Lebensstil (Rauchen, Fettleibigkeit, keine regelmässige körperliche Aktivität und ungesunde Ernährung) zu einer kardiovaskulären Komorbidität bei diesen Erkrankungen führen.

Empirische Fakten zu Komorbiditätsraten

Die Prävalenz von Hypertonie, Adipositas, Hyperlipidämie, Diabetes mellitus und mindestens einem kardiovaskulären Ereignis ist bei PsA-Patienten signifikant höher als bei Patienten mit Psoriasis ohne Arthritis und liegt bei unangepassten Odds Ratios (ORs) zwischen 1,54 und 2,59 [4].

Interessanterweise lag in einer Kohortenstudie, in der weder sehr leichte noch schwerwiegende Psoriasis über einen Zeitraum von 3–5 Jahren mit einem erhöhten Risiko für schwere kardiovaskuläre Ereignisse in Verbindung gebracht wurden, das Risiko für ein schwerwiegendes kardiovaskuläres Ereignis bei 36% höher bei Patienten mit Psoriasis, die auch entzündliche Arthritis hatten. Die Prävalenz traditioneller kardiovaskulärer Risikofaktoren wie Adipositas, Bluthochdruck, Diabetes, Dyslipid­ämie, metabolisches Syndrom und Rauchen ist bei Psoriasis erhöht [5]. Der Zusammenhang zwischen Psoriasis und Adipositas sowie die Auswirkungen von Adipositas auf die Behandlung von Psoriasis sind gut belegt [6]. Das Odds Ratio (OR) für den Zusammenhang zwischen Psoriasis und Adipositas nach Body-Mass-Index beträgt 1,8 (95% CI 1,4–2,2) [7]. Berücksichtigt man den Schweregrad, so ergab sich für Patienten mit leichter Psoriasis ein Gesamt-OR für Adipositas von 1,46 (95% CI 1,17–1,82) und für Patienten mit schwerer Psoriasis von 2,23 (95% CI 1,63–3,05) [8]. Fettleibigkeit gilt als eigenständiger Risikofaktor für Psoriasis [9]: Fettleibigkeit und hohe Bauchfettmasse verdoppeln das Risiko für Psoriasis und eine langfristige Gewichtszunahme erhöht das Psoriasis-Risiko erheblich. [10].

Eine Metaanalyse von 24 Beobachtungsstudien ergab einen gepoolten OR für den Zusammenhang zwischen Psoriasis und Hypertonie von 1,58 (95% CI, 1,42–1,76). Der OR für Bluthochdruck betrug 1,30 (95% CI 1,15–1,47) bei Patienten mit leichter Psoriasis und 1,49 (95% CI 1,20–1,86) bei schwerer Psoriasis [11]. Darüber hinaus scheint die Wahrscheinlichkeit einer schlecht kontrollierten Hypertonie mit einer schwereren Hauterkrankung zuzunehmen, unabhängig vom Body Mass Index (BMI) und anderen Risikofaktoren [12]. In einer Metaanalyse von 44 Beobachtungsstudien ergab sich ein zusammengefasster OR der mit Diabetes assoziierten Psoriasis von 1,76 (95% CI 1,59–1,96). Patienten mit PsA hatten die höchste OR (2,18, 95% CI 1,36–3,50) [13]. Patienten mit schwerer Psoriasis hatten auch eine höhere OR (2,10, 95% CI 1,73–2,55). Darüber hinaus scheinen Diabetiker mit Psoriasis häufiger an mikro- und makrovaskulären Diabetes-Komplikationen zu leiden als Diabetiker ohne Psoriasis [14]. In einer systematischen Übersicht fanden 20 von 25 eingeschlossenen Studien signifikante Assoziationen zwischen Psoriasis und Dyslipidämie mit ORs zwischen 1,04 und 5,55 [15]. In Studien, die den Schweregrad der Psoriasis berücksichtigten, wurde bei Patienten mit schwerer Psoriasis (Bereich 1,36 bis 5,55) eine höhere Wahrscheinlichkeit einer Dyslipidämie festgestellt als bei Patienten mit leichter Psoriasis (Bereich 1,10 bis 3,38) [16]. In einer Querschnittsstudie im Vereinigten Königreich korrelierte die Prävalenz des metabolischen Syndroms direkt mit der Körperoberfläche (BSA), die von Psoriasis betroffen war, und variierte in einer Art «Dosis-Antwort» von milder (≤2% BSA; angepasstem OR 1,22; 95% CI 1,11–1,35) bis schwere Psoriasis (>10% BSA; bereinigt OR 1,98; 95% CI 1,62–2,43) [18]. Es wurde festgestellt, dass Rauchen signifikant mit Psoriasis assoziiert ist, mit einem RR von 1,88 (95% CI, 1,66–2,13); In den meisten Veröffentlichungen ist Rauchen auch mit einem erhöhten Schweregrad der Psoriasis assoziiert [19]. Rauchen ist zudem mit einem erhöhten Risiko für Psoriasis-Vorfälle und einer möglichen Dosis-Wirkungs-Beziehung verbunden [20].

Komorbide Depression als Mediatorvariable?

Die Hazard Ratio für Depressionen bei Psoriasis beträgt ungefähr 1,4–1,5 und steigt mit der Schwere der Erkrankung an [20,21]. Depressio­nen sind ein Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, kardiovaskuläre Ereignisse und Mortalität und die Diagnose einer Depression zu jedem Zeitpunkt nach einer Erkrankung der Herzkranzgefässe ist mit einem zweifach höheren Sterberisiko verbunden [21].  Daher könnte die Assoziation von Psoriasis mit Depressionen im Hinblick auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Mortalität klinisch relevant sein. Bei Patienten mit Psoriasis ist eine Depression mit einem erhöhten Risiko für Myokardinfarkt, Schlaganfall und kardiovaskulärem Tod verbunden, insbesondere während einer akuten Depression [22]. Depressionen können auch eine wichtige Rolle bei der Förderung der subklinischen Arteriosklerose spielen, die über die traditionellen kardiovaskulären Risikofaktoren und sogar die Psoriasis selbst als eigenständigen Risikofaktor hinausgeht. Bei Patienten mit Psoriasis und selbst berichteten Depressionen wurde festgestellt, dass die durch 18-Fluordesoxyglucose-Positronenemissionstomografie/Computertomo­gra­fie (FDG PET/CT) gemessene vaskuläre Entzündung und die durch Koronar-CT-Angiografie gemessene Belastung der Koronarplaques bereinigt um den Framingham Risk Score, im Vergleich zu Patienten mit Psoriasis allein, signifikant erhöht sind [23].

Resümee

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die kardiovaskuläre Belastung bei Patienten mit PsA höher sein kann als bei Patienten mit Psoriasis ohne Arthritis. Das Vorhandensein von Arthritis kann auf eine erhöhte systemische Entzündung hinweisen, die Komorbiditäten und kardiovaskuläre Folgen verschlimmern kann. Fettleibigkeit und die damit verbundenen Stoffwechselstörungen treten bei Patienten mit Psoriasis und PsA häufiger auf als bei Patienten mit anderen entzündlichen Arthritiden. Darüber hinaus ist Fettleibigkeit bei Psoriasis-Patienten und in der Allgemeinbevölkerung mit einem erhöhten PsA-Risiko verbunden. Die hohe Prävalenz traditioneller kardiovaskulärer Risikofaktoren und Stoffwechselstörungen trägt zur hohen kardiovaskulären Belastung bei Patienten mit Psoriasis und PsA sowie zu Übergewicht bei, kann aber auch das Risiko für die Entwicklung von Psoriasis und die Auswirkung auf die Krankheitsaktivität beeinflussen. Das Vorliegen einer systemischen Entzündung in Kombination mit Stoffwechselstörungen kann synergistisch wirken und das kardiovaskuläre Risiko bei diesen Patienten erhöhen.

Fazit: Bei Patienten mit Psoriasis und Psoriasis-Arthritis besteht ein starker Bedarf für eine Verbesserung der Primär- und Sekundärprävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die Komponenten des metabolischen Syndroms sollten angemessen diagnostiziert werden. Änderungen des Lebensstils sollten aktiv gefördert werden. Die Risikostratifizierung sollte bei Patienten mit Psoriasis und PsA angepasst werden und die angemessenen pharmazeutischen Interventionen unter angemessener Überwachung ihrer Wirksamkeit durchgeführt werden. Die Kollegen, die Patienten mit Psoriasis und/oder PsA betreuen, sollten in Zusammenarbeit mit Allgemeinpraktikern und Kardiologen eine aktive Rolle bei der Erreichung dieser Ziele spielen.

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DERMATOLOGIE PRAXIS 2019; 29(3): 28–29

Publikation

DERMATOLOGIE PRAXIS 

Der Ernährungsstil gehört zu den einflussreichsten Risikofaktoren für metabolische, kardiovaskuläre und etliche weitere Erkrankungsgruppen. Der Optimierung der Ernährung kommt daher eine enorme Bedeutung bei der Prävention und Therapie zu. Für die traditionell-mediterrane Ernährung und das Low-Fat-Konzept gibt es epidemiologische und vor allem auch interventionelle Evidenz für die Verbesserung aller Stoffwechselachsen, die Absenkung des Körperfettanteils und die Reduktion relevanter Langzeitrisiken wie Typ-2-Diabetes, koronare Herzkrankheit, Schlaganfall und bestimmte Krebserkrankungen.

Der Ernährungsstil gehört zu den einflussreichsten Risikofaktoren für metabolische, kardiovaskuläre und etliche weitere Erkrankungsgruppen. Der Optimierung der Ernährung kommt daher eine enorme Bedeutung bei der Prävention und Therapie zu. Für die traditionell-mediterrane Ernährung und das Low-Fat-Konzept gibt es epidemiologische und vor allem auch interventionelle Evidenz für die Verbesserung aller Stoffwechselachsen, die Absenkung des Körperfettanteils und die Reduktion relevanter Langzeitrisiken wie Typ-2-Diabetes, koronare Herzkrankheit, Schlaganfall und bestimmte Krebserkrankungen [1,2]. Low-Carb oder vegetarisch-vegane Ernährung sind den vorgenannten Konzepten gegenüber in bestimmten metabolischen Achsen ebenbürtig oder sogar überlegen, in anderen aber zu schlecht untersucht. Auch Langzeitdaten gibt es zu Low-carb oder vegetarisch-veganer Ernährung nicht aus randomisiert-kontrollierten Studien (RCTs). Die Effektivität von Low-GI, Intervallfasten und anderen Konzepten bei metabolischen Surrogatparametern liegt im Mittelfeld oder mangels ausreichender Studien im Unklaren.

Personalisierungsstrategien

Mit dem Aufkommen der Cluster-Subtypen für Prä­dia­be­tes und Typ-2-Diabetes verfeinert sich zunehmend unser Wissen um die individuelle Pathogenese und somit auch des individuellen Therapiebedarfs [3,4]. Während bestimmte Einzelmerkmale wie der Body-Mass-Index (BMI), der Blutzucker und das Patienten­alter zumindest in einigen Studien eine Prädiktion des metabolischen Erfolgs erlauben, ist eine solche Vorhersage anhand der Cluster-Subtypen trotz ihres pathomechanistischen Konzepts noch nicht anwenderreif möglich. Denn eine Hürde teilen sich alle Ansätze zur Personalisierung von Ernährungstherapien: Bevor die Wirksamkeit einer Ernährungsumstellung in RCT-Subgruppen zur Grundlage genommen werden kann, muss in diesen Subgruppen auch die tatsächliche Compliance gegenüber der Therapie sichergestellt sein. Eben diese Compliance ist aber schwer zu definieren, schwer zu messen und somit schwer als Prädiktor des Therapieerfolgs zu nutzen.

Compliance – wie definieren, wie messen?

Compliance bezeichnet ganz allgemein die Treue gegenüber den therapeutisch verordneten Vorgaben, also einer Pharmakotherapie, einer Noxenkarenz oder einer spezifischen Ernährungsbehandlung. Non-Compliance, also das bewusste Abbrechen einer Behandlung durch Patientinnen bzw. Patienten, ist dann erwünscht, wenn eine Therapie nicht wirksam, nicht umsetzbar oder sogar unzumutbar nebenwirkungsträchtig ist.

Die genaue Messung der Compliance ist dennoch schwierig. Bei einer medikamentösen Behandlung (auch bei Nahrungssupplementen) gibt es «nur» die Möglichkeit zur Übertherapie (der Patient nimmt zu viel Wirkstoff ein) oder Untertherapie (zu wenig Wirkstoff). Lebensstilmassnahmen beruhen aber meist auf mehreren Ansätzen gleichzeitig: Ernährung und Bewegung; Bewegungsintensität und -qualität, Ernährungsmenge, -muster und -frequenz. Dabei können sich sogar einzelne Elemente in der Umsetzbarkeit behindern. So mindert eine starke Kalorienrestriktion mit herkömmlichen Lebensmitteln die Chance, «low fat» zu essen, da die wenigen verbliebenen Kalorien nur unrealistisch geringe Mengen Nahrungsfett enthalten dürfen. Hypokalorisch einen Grenzwert von z.B. 30 kcal% zu unterschreiten, ist schwierig. Auch eine starke sättigende High-Protein-Ernährung ohne Gewichtsreduktion ist unwahrscheinlich. Vollständige Compliance gegenüber allen erteilten Vorgaben ist bei komplexen Ernährungstherapien kaum zu erwarten.

Ein weiteres Dilemma betrifft die Quantifizierung der Compliance. Während in der Pharmakotherapie durch die Spiegelbestimmung des Wirkstoffs ein objektiver Marker zur Therapietreue vorliegt, bieten nur wenige Lebensmittel und Nährstoffe vergleichbare Biomarker: Alkylresorcinole für Vollkorngetreide, Methylhistidin für rotes Fleisch, essenzielle Fettsäuren für deren Nahrungsquellen sowie einige weitere Metabolite, die nur in Studien bestimmt werden [5]. In der klinischen Praxis sind diese Messmethoden aber nicht etabliert und selbst für die meisten Forschungsprojekte zu aufwendig und teuer. Subjektive Erfassung durch Ernährungsprotokolle oder Nahrungsfrequenz-Fragebögen sind üblicher, aber auch fehlerbehafteter – von Over- und Underreporting (falsches Dokumentieren) bis Over- und Undereating (also der Verzerrung des Essverhaltens durch das Protokollieren) [6].

Der Gewichtsverlust ist übrigens kein idealer Complianceparameter. Zwar streben viele Patienten und Therapeuten eine Gewichtsreduktion an, aber nicht alle Patienten können oder sollten signifikant Gewicht verlieren. Für ältere Patienten liegt das Ideal­gewicht höher; Menschen, die bereits mit Ideal- oder Untergewicht in eine Therapie starten, sollten gar nicht abnehmen. Körpergewicht und BMI bilden nicht spezifisch den angestrebten Abbau von (viszeralem) Fettgewebe ab; Gewichtsverlust kann auch als Ergebnis einer gut gemeinten Ernährungstherapie Kachexie oder Sarkopenie reflektieren.

In klinischen Studien ist ein weiterer Parameter dazu aussagekräftig, wie belastend eine therapeutische Intervention ist: die Drop-out-Rate. Je intensiver eine Therapie, desto eher bzw. desto wahrscheinlicher brechen Patienten die Behandlung ab. Im Einzelfall hilft dieser Parameter natürlich nicht zur Vorhersage eines Therapieerfolgs, in grösseren Kohorten könnte er aber ein guter Surrogatparameter der Compliance sein, da eben präzise Therapietreue (zur Kalorienbilanz, zu Nährstoffvorgaben und anderen Aspekten) in vielen Ernährungsinterventionsstudien nicht oder nur unzureichend berichtet wird. Die Zahl der Therapieabbrüche wird aber relativ zuverlässig publiziert.

Wie hoch ist die Compliance im Durchschnitt?

Aus Beobachtungsstudien lässt sich die Compliance gegenüber Ernährungsformen nicht ableiten; alle eingeschlossenen Personen zeigen ja ein Lebensstilmuster, das sich frei von systematischen Vorgaben darstellt, also vor allem von den individuellen Vorlieben, religiösen Regeln, persönlicher Akzeptanz und im Einzelfall erhaltenen therapeutischen Empfehlungen getragen ist. Somit belegt ein kleiner Anteil von «freiwilligen» Veganern in einer Kohortenstudie – allzumal meist vor Jahrzehnten rekrutiert – keinesfalls eine geringe Akzeptanz gegenüber dieser Ernährungsform, wenn man sie heute als Standardbehandlung einer Gruppe von Nicht-Veganern verordnen würde.

Die durchschnittliche Compliance gegenüber Ernährungstherapien lässt sich daher nur aus RCTs abschätzen und nicht zu allen diätetischen Ansätzen haben wir solche Studien in ausreichender Zahl. Langzeit-Interventionsstudien sind in der Ernährungsforschung ohnehin Raritäten, aber selbst zu kürzeren Zeiträumen ist die Evidenz variabel. Zu Low-Carb-, Low-Fat-, High-Protein-, mediterraner Ernährung, Low-GI, vegetarisch-veganer Diät und Intervallfasten lassen sich grobe Schätzwerte aus Studien mit bis zu 6 Monaten Studiendauer ermitteln – auf Grundlage der oben vorgestellten Drop-out-Rate in diesen Publikationen. 6 Monate sind dabei ein günstiger Grenzwert, weil zu diesem Zeitpunkt die Compliance der meisten Probanden bereits auf ein relativ stabiles Plateau abgefallen ist [7] (Abb. 1).

Im generellen Trend lässt sich erkennen, dass Studien zu kohlenhydratrestriktiven Verfahren höhere Drop-out-Raten aufweisen als Studien, die Diätvorgaben ohne Fokus auf Kohlenhydratmenge nutzen (Tab. 1). Dies bedeutet aber nicht, dass «low carb» schlechter umsetzbar ist. Studien zu «low carb» schliessen häufiger (ältere) Patienten mit Typ-2-Diabetes ein, die durchschnittliche Studiendauer ist länger, auch Durchschnittsalter und Geschlechterverteilung variieren zwischen allen Studien und den darin getes­teten Ernährungsverfahren stark. Gründe für einen Studienabbruch gibt es viele: Unverträglichkeit oder Nebenwirkungen, fehlender Diäterfolg, mangelnde Abwechslung auf dem Teller, individuelle Belastungen im privaten Umfeld, neue Erkrankungen u.v.m. Der wesentliche Faktor dürften aber Hindernisse bei der Compliance sein.

Lässt sich Compliance (diätspezifisch) vorhersagen?

Selbst die Drop-out-Rate sammelt also ein Potpourri an Abbruchszenarien, von denen nur einige zur Vorhersagbarkeit der Compliance beitragen könnten. Zufallsereignisse und seltene Komplikationen können immer das Durchhalten einer Therapie beeinflussen. Faktoren der Diätintervention an sich (Dauer, Intensität, Vorgaben), der Zielgruppe (Alter, BMI, Geschlecht) und des weiteren therapeutischen Settings (Hilfsangebote, finanzielle Unterstützung, ergänzende therapeutische Vorgaben oder Optionen) betreffen alle Patienten, sind in vielen Studien dokumentiert und erlauben daher eine systematische Analyse ihres Einflusses auf die Compliance.

RCTs zu Low-Carb (im Vergleich zu Low-Fat) zeigen in einer umfangreichen statistischen Auswertung von 2018, dass Diätdauer und Diätstrenge vollkommen plausibel mit der Drop-out-Rate korrelieren. Zudem weisen RCTs mit jüngeren Teilnehmern und solche mit besonders adipösen Patienten besonders hohe Abbruchraten auf. Zudem wirkt eine zu häufige Kontrolle der Therapietreue durch Ernährungsprotokolle offenbar abschreckend und ist mit höherer Abbruchrate assoziiert. Dass weder der Anteil an Diabetes-Patienten noch an Rauchern einen statistischen Einfluss hat, stärkt die Aussagekraft der Drop-out-Rate als Compliancemarker, der keine gesundheitlichen Abbruchgründe (also z.B. Diabeteskomplikationen o.ä.), sondern vor allem eine Verhaltensweise repräsentiert [8].

Auch zu vegetarisch-veganen Diäten gibt es einige RCTs, die einer solchen Auswertung zugänglich sind. Erneut zeigen RCTs mit höherer Studiendauer eine höhere Drop-out-Rate, strengere Diäten schneiden schlechter ab. Auch hier ist ein zu engmaschiges Ernährungsmonitoring hinderlich. Anders als bei «low carb/low fat» sind höheres Patientenalter und höherer BMI keine signifikanten Einflussfaktoren, die die Therapietreue weniger wahrscheinlich machen. Studien mit höherem Raucheranteil und solche mit zusätzlichen Vorgaben zu körperlicher Aktivität hatten höhere Abbruchraten. Veganismus und Vegetarismus schnitten ähnlich ab [9].

In den Analysen zu low-carb/low-fat sowie vegetarisch-veganer Ernährung zeigten Studien mit hohem Anteil an vorerkrankten Teilnehmern (z.B. mit Typ-2-Diabetes) keine erhöhte Abbruchrate. Auch die Geschlechterverteilung hatte keinen Einfluss [8,9]. Zu allen anderen Ernährungsformen (von Formula bis mediterran, von Low-GI bis High-Protein) sind ähnliche Analysen möglich, aber noch nicht publiziert.

Ausblick

Die Bestimmung und – idealerweise – die Prädiktion der Compliance sind essenziell, um Ernährungstherapien für klinische Studien und die klinische Routine adäquat zu konzipieren und deren Erfolgsaussichten abzuschätzen. Auch die angestrebte Personalisierung von Therapien in der Diabetologie setzt zunächst eine präzise Aussage zur Compliance voraus. Die Definition und Messung der Compliance ist aber komplex und technisch schwierig, gerade mit objektiven Parametern. Als Studiengrundlage kommen nur RCTs infrage, bei der persönliche Vorlieben und andere Prägungen für die Zuteilung der jeweiligen Ernährungsform keine Rolle spielen (wenn auch für die Bereitschaft, überhaupt an einer solchen Studie teilzunehmen und möglicherweise eine unattraktive Diät zugelost zu bekommen). RCTs braucht es in der Ernährungsforschung aus vielen Gründen in grösserer Zahl, längerer Dauer, breiterer Rekrutierung; dabei muss auch die tatsächliche Compliance zukünftig besser erfasst und publiziert werden.

In der heutigen klinischen Realität ruht die Personalisierung von metabolischen Ernährungstherapien daher weiterhin auf drei Pfeilern. Erstens: trial-and-error auf therapeutischer Seite, wobei nach dem eventuellen Scheitern der erfolgversprechendsten Diät der nächste Ernährungskandidat folgt. Zweitens: der individuellen Überzeugung der Patienten, dass die Therapie hilft. Der «Health belief» ist ganz wesentlich entscheidend dafür, ob Vorgaben überhaupt initial umgesetzt oder gleich verworfen werden. Drittens erfolgt eine Vorauswahl durch die Patienten auf Grundlage ethischer, religiöser und sozialer Faktoren, welche Ernährungsform überhaupt akzeptabel ist. Gerade das geringe Haushaltseinkommen vieler Patienten mit metabolischen Erkrankungen limitiert aber den Einsatz aller evidenzbasierten Ernährungstherapien. Gesunde Ernährung, egal in welcher Form, ist für weite Teile der Bevölkerung in westlichen Ländern nicht erschwinglich [10].

Take-Home-Messages

  • Ernährungstherapien sind vielfältig präventiv und kurativ wirksam, wahrscheinlich besonders stark bei spezifischen Patientengruppen oder Erkrankungssubtypen.
  • Voraussetzung der Wirksamkeit ist die gute Compliance, also die therapietreue Mitwirkung der Patientinnen und Patienten an allen Elementen der Ernährungsvorgaben.
  • Die diätspezifische Definition von Compliance und Non-Compliance ist schwierig, ihre Messung oft nur mit subjektiven Parametern möglich.
  • Neben der Diätintensität und -dauer spielen vermutlich Patientenfaktoren (Alter, BMI u.a.) eine Rolle, auch die Strenge der Complianceüberwachung beeinflusst die Bereitschaft zur Diättreue.
  • Die insgesamt unzureichende Datenlage zur Wirksamkeit von Ernährungstherapien aus RCTs erstreckt sich auch auf den Fragenkomplex der Compliance; zahlreichere, grössere und längere Interventionsstudien sind nötig.

CoI: Stefan Kabisch erhielt Fördermittel vom Deutschen ­Zentrum für Diabetesforschung e.V. (DZD), der Deutschen Diabetes Gesellschaft, vom Almond Board of California, der California Walnut Commission, der Wilhelm-Doerenkamp-Stiftung, J. Rettenmaier & Söhne und Beneo Süd­zucker sowie persönliche Zuwendungen von Lilly Deutschland, Sanofi, Berlin Chemie, Boehringer-Ingelheim und der JuZo-Akademie.

Literatur:

  1. Estruch R, Ros E, Salas-Salvadó J, et al.: Primary Prevention of Cardiovascular Disease with a Mediterranean Diet Supplemented with Extra-Virgin Olive Oil or Nuts. N Engl J Med 2018; 378(25): e34.
  2. Gong Q, Zhang P, Wang J, et al.: Morbidity and mortality after lifestyle intervention for people with impaired glucose tolerance: 30-year results of the Da Qing Diabetes Prevention Outcome Study. Lancet Diabetes Endocrinol 2019; 7(6): 452–461.
  3. Ahlqvist E, Storm P, Käräjämäki A, et al.: Novel subgroups of adult-onset diabetes and their association with outcomes: a data-driven cluster analysis of six variables. Lancet Diabetes Endocrinol 2018; 6(5): 361–369.
  4. Wagner R, Heni M, Tabák AG, et al.: Pathophysiology-based sub­pheno­typing of individuals at elevated risk for type 2 diabetes. Nat Med 2021; 27(1): 49–57.
  5. Marklund M, Magnusdottir OK, Rosqvist F, et al.: A dietary biomarker approach captures compliance and cardiometabolic effects of a healthy Nordic diet in individuals with metabolic syndrome. J Nutr 2014; 144(10): 1642–1649.
  6. Schoeller DA: Validation of habitual energy intake. Public Health Nutr 2002; 5(6A): 883–888.
  7. Dansinger ML, Gleason JA, Griffith JL, et al.: Comparison of the Atkins, Ornish, Weight Watchers, and Zone diets for weight loss and heart disease risk reduction: a randomized trial. JAMA 2005; 293(1): 43–53.
  8. Schmidt I: Analyse zur Diätcompliance bei «Low-Carb»- und «Low-Fat»-Studien. Doktorarbeit; Charité – Universitätsmedizin Berlin 2017.
  9. Keller J: Metaanalyse zu Diätcompliance und Drop-out-Rate in RCTs zur vegetarischen/veganen Ernährung; Masterarbeit, Universität Potsdam 2022.
  10. Kabisch S, Wenschuh S, Buccellato P, et al.: Affordability of Different Isocaloric Healthy Diets in Germany – An Assessment of Food Prices for Seven Distinct Food Patterns. Nutrients 2021; 13(9): 3037.

CARDIOVASC 2024; 23(3): 4–7

Autoren
  • Dr. med. Stefan Kabisch 
  • Judith Keller, M.Sc. 
  • Dr. med. Isabell Schmidt 
  • Univ. Prof. Dr. med. Andreas F.H. Pfeiffer 
Publikation

CARDIOVASC 

Die metabole Chirurgie stellt für die Behandlung der morbiden Adipositas eine vielversprechende Therapieoption dar. Denn es gibt eine hohe Evidenz dafür, dass sie bei schlecht einstellbarem Typ 2-Diabetes mellitus und BMI auch unter 35 kg/m2 wirksamer als eine konservative Therapie ist.

Als vor über sechzig Jahren erste Operationen am Magen-Darm-Trakt entwickelt wurden mit dem Ziel, die morbide Adipositas zu behandeln, ging es primär darum, das Gewicht zu reduzieren. Relativ schnell wurde aber klar, dass mit diesen Operationen auch die mit der Adipositas vergesellschafteten Komorbiditäten, die Lebenserwartung und die Lebensqualität verbessert werden konnten, was sich langfristig auch auf die Gesundheitskosten auswirkte. Bereits vor über zwanzig Jahren gab es mehrere Berichte über hohe Raten an Remissionen des Typ 2-Diabetes mellitus (T2DM) nach Magenbypass. Es folgten tierexperimentelle, aber auch humane Daten zu den Mechanismen, die dem gewichtsunabhängigen Effekt bariatrisch-­chirurgischer Methoden auf die glykämische Kontrolle und den Lipidstoffwechsel zugrunde liegen [1]. Daraus entstand der Begriff der «metabolen Chirurgie». Im Jahr 2015 trafen sich internationale Experten für Endokrinologie, Chirurgie, Gastroenterologie und Mitglieder der Forschung zum zweiten Diabetes Surgery Summit (DSS II) in London, um die bis zu diesem Zeitpunkt vorhandene Evidenz über den Erfolg der metabolen Chirurgie im Vergleich zur konven­tio­nellen medizinischen Therapie bei der Behandlung des T2DM auszuwerten. Sie formulierten einerseits Empfehlungen zur chirurgischen Therapie des T2DM bei morbider Adipositas, gaben andererseits  jedoch auch eine Beurteilung der Therapiemöglichkeiten für diabetische Patienten mit einem BMI <35 kg/m2 ab (Tab. 1). Diesen DSS II-Guidelines wurde eine ganze Ausgabe eines bis dato sehr Chirurgie-kritischen Journals gewidmet [2]. Seither wurden die Empfehlungen von über fünfundfünfzig internationalen Fachgesellschaften ratifiziert.

Welche Operation für welchen Patienten?

Konservative Therapiemassnahmen zur Behandlung der morbiden Adipositas sind sehr selten langfristig erfolgreich (<4%) [3]. Demgegenüber ist die ­Chirurgie mit dauerhaftem Effekt zu 90% erfolgreich [4,5]. ­Präoperativ abzuschätzen, welcher Patient welchen Operationstypus braucht, ist kein einfaches Unterfangen. Rein restriktive Operationsverfahren, wie bspw. die Magenbandoperation, führen langfristig nur bei ca. 10% zu suffizienter Gewichtsabnahme und Reduktion der Komorbiditäten, da sie kaum von der Gewichtsabnahme unabhängige metabole Effekte aufweisen [6]. Der proximale Roux-Y-Magenbypass ist nach wie vor der Goldstandard (Abb. 1). Dieser Eingriff hat nebst der restriktiven auch eine starke metabole Wirkungsweise. Malabsorptiv wirkt er lediglich als unerwünschter Nebeneffekt auf Mikronährstoffe (Vitamine und Spurenelemente), nicht aber auf Makro­nährstoffe, d.h. Kalorien. Da kein Gewebe entfernt wird, ist die Operation potenziell reversibel. Heute wird sie fast ausschliesslich auf laparoskopischem Wege durchgeführt. Relevante Komplikationen treten in erfahrenen Zentren in <1% der Fälle auf. Vorübergehend führte die laparoskopische Technik zu einem Anstieg einer klassischen Spätkomplikation, der inneren Hernien, einer Dislokation von Dünndarmabschnitten zwischen die mesenterialen Lücken hindurch. Seit diese Lücken beim Ersteingriff verschlossen werden, hat sich die Rate von inneren Hernien deutlich reduziert. Klinisch manifestieren sie sich in Form von postprandialen Abdominalschmerzen, eher selten als akutes Abdomen mit Ileus. Weitere Spätkomplikationen sind Dumping-Beschwerden. Gelegentlich können therapierefraktäre Spätdumpings auftreten, die im (seltenen) Extremfall dazu führen, den Eingriff rückgängig machen zu müssen. Auch bei konsequenter lebenslanger Vitamin- und Spurenelementsubstitution können bei allen gewichtsreduzierenden Eingriffen Mangelerscheinungen auftreten. Daher werden die Patienten angehalten, regelmässige Kontrollen durchzuführen und ggf. zusätzlich Supplemente zuzuführen. Die morbide Adipositas ist eine chronische Krankheit, die rezidivieren kann in Form von sekundärer Gewichtszunahme und erneutem Auftreten der Komorbiditäten. Bei ca. 5% der Patienten kommt es dann, nach erneuter interdisziplinärer Evaluation, zu einem Folgeeingriff.

Die biliopankreatische Diversionsoperation (BPD) (Abb. 2) wirkt restriktiv, malabsorptiv und metabol und stellt heute die wohl effektivste Behandlungsmethode dar, was die Gewichtsabnahme und T2DM-Remissionsrate (ca. 95%) betrifft. Der Preis dafür ist aber mit einer deutlich erhöhten Stuhlfrequenz, übelriechender Flatulenz und sowohl Mikro- als auch Makronährstoffmangel recht hoch. Deshalb steht diese Operation nur dann zur Diskussion, wenn ein sehr hohes Körpergewicht und/oder schwere Sekundärmorbiditäten auf die einfacheren Primär­operationen nicht ansprechen. Bei Patienten mit extrem hohem BMI ist diese Operation laparoskopisch nur schwer in einem Schritt durchführbar. Aus diesem Grund wurde ein Zweistufenkonzept entwickelt, das aus primärer Schlauchgastrektomie (Abb. 3) und Magenbypass oder BPD 1–2 Jahre später besteht. Nachdem aber Patienten allein mit der Schlauchgastrektomie erfolgreich abnehmen konnten, indem diese Methode ähnliche metabole Wirkungen zeigte wie der Magenbypass [7–9], hat das Verfahren als alleiniger Primäreingriff zunehmend an Popularität gewonnen. In Frankreich, Deutschland, im Nahen Osten und in den Vereinigten Staaten wird er bereits häufiger als der Magenbypass durchgeführt.

In einer randomisierten Schweizer Multizenter-Studie konnten wir fünf Jahresresultate dieser beiden Operationsmethoden (Schlauchgastrektomie und Magenbypass) vergleichen. Dabei war die Gewichtsabnahme nicht signifikant unterschiedlich mit 61,5% Übergewichtsabnahme durch Schlauchgastrektomie und 68% durch Magenbypass. Die T2DM-Remissions-Raten waren bei beiden >60%, die Dyslipidämie und die gastroösophageale Refluxkrankheit wurden beim Bypass hingegen erfolgreicher behandelt. Die Lebensqualität verbesserte sich bei beiden Operationen identisch, auch die Rate an Re-Operationen war nicht signifikant unterschiedlich [10].

Weitere Verfahren (Omega Loop-Magenbypass, endoskopische transgastrische Verfahren etc.) müssen den wissenschaftlichen Nachweis ihrer Effektivität und Sicherheit erst noch erbringen, sodass sie ausserhalb von Studien im Moment in der Schweiz keine Anwendung finden sollten.

Verschiedene Faktoren beeinflussen die Wahl des richtigen Eingriffs für den einzelnen Patienten. So sind Ausmass des Übergewichts, Fettverteilung, Alter, Geschlecht, Art und Schweregrad der Komorbiditäten, Essverhalten, Stuhlgewohnheiten, Stoffwechsel (Grundumsatz, Kohlehydrat- und Fettverbrennung), möglicherweise genetische Faktoren, Verständnis für Nahrungsumstellungen und die zu erwartende Zuverlässigkeit, was den Besuch von Nachkontrolluntersuchungen betrifft, sowie Patientenwunsch im Auswahlprozess wichtig. Nach interdisziplinärer Evaluation muss mit dem Patienten gemeinsam der für ihn optimale Eingriff ausgewählt werden, im Wissen, dass eine exakte Prognose für den Einzelfall nicht möglich ist. Ein Magenbypass ist insbesondere bei Patienten mit einer grossen Hiatushernie, schwerem Reflux, T2DM und Dyslipidämie indiziert. Gute Kandidaten für eine Schlauchgastrektomie sind hochmotivierte Patienten mit extrem hohem BMI im Rahmen eines Zweistufenkonzepts, Patienten mit multiplen Adhäsionen nach Voroperationen oder grossen Narbenhernien und möglicherweise Patienten mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen.

Entwicklungen in der Schweiz

Bevor die bariatrische Chirurgie eine anerkannte Pflichtleistung in der Schweiz wurde, beauftragte der Bundesrat via Bundesamt für Gesundheit die interdisziplinäre Fachgesellschaft der Schweiz (Swiss Socie­ty for the Study of Morbid Obesity and Metabolic Disorders, SMOB), Richtlinien zur Behandlung der morbiden Adipositas zu formulieren. Mit Inkrafttreten der Richtlinien per Februar 2011 wurde die ­bariatrische Chirurgie bei Patienten mit BMI >35 kg/m2­ nach erfolgloser konservativer Therapie von insgesamt zwei Jahren (bei BMI >50 kg/m2 von einem Jahr) als Pflichtleistung anerkannt. Des Weiteren wurden Qualitätskriterien betreffend Selektion, Vorbereitung, Behandlung und Nachsorge definiert und Kriterien entwickelt, wer welche Operationen durchführen darf. Es wurden Primärzentren für die einfacheren Eingriffe und Sekundärzentren für komplexere Eingriffe ­definiert (www.smob.ch). Die Richtlinien wurden mehrfach überarbeitet. Anfang dieses Jahres wurde auch die Behandlung der Adoleszenten in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Pädiatrie implementiert. Gerade dieses Patientenkollektiv muss mit grösster Sorgfalt ausgewählt und betreut werden.

Nach Einführung der bariatrischen Chirurgie in der Schweiz wurde durch das Swiss Medical Board ein «Health Technology Assessment» durchgeführt und Ende 2016 publiziert. Das Ziel dieses HTA-Berichts war die Bewertung der Wirksamkeit, Sicherheit, Kosteneffektivität und der Auswirkung auf den Etat sowie der rechtlichen und ethischen Effekte der bariatrischen Chirurgie im Vergleich zu konservativen Behandlungsmethoden. Dabei zeigte sich ein statistisch signifikanter Vorteil der Chirurgie gegenüber der konservativen Behandlung, was die Gewichtsabnahme, Körperfunktion, Reduktion des HbA1c und T2DM-Remission sowie die Verbesserung von Hypertonie und Dyslipidämie betrifft. Ausserdem wurde die Chirurgie im Vergleich zur konventionellen Behandlung als kosteneffizienter beurteilt. Es wurde zudem festgehalten, dass das Krankenversicherungsgesetz die Tendenz aufweist, konservative Behandlungen zu bevorzugen, was laut Bericht des Swiss Medical Boards nicht gerechtfertigt ist [11].

Nach einer anfänglichen Zunahme der Eingriffszahlen haben sich diese schweizweit bei ca. 5000 Operationen jährlich eingependelt (75% Magenbypässe, 20% Schlauchmagen- und wenige Magenband- und BPD-Operationen). Diese Zahl entspricht weniger als 4% der 140 000 Patienten, die gemäss den Kriterien für einen bariatrischen Eingriff qualifiziert wären.

Gemeinsam mit der Schweizerischen Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie ist die SMOB aktuell dabei, die metabole Chirurgie für Patienten mit schlecht einstellbarem T2DM und BMI 30–35 kg/m2 zugänglich zu machen, so wie dies in England, Indien, Israel und Spanien bereits möglich ist. Denn der BMI ist als Kriterium weniger entscheidend als die Stoffwechsellage. Auch strebt die Gesundheitsdirektoren-Konferenz im Rahmen der hochspezialisierten Medizin an, die komplexe bariatrische Chirurgie zu reglementieren. Die bariatrische Chirurgie in der Schweiz zeichnet sich durch eine sehr hohe Qualität aus. Die Frühmorbidität beträgt wenige Prozent, die Mortalität weniger als 1‰. Die Nachkontrollrate in unserem Land ist im internationalen Vergleich erfreulicherweise sehr hoch. Dies ist nicht nur für den einzelnen Patienten hinsichtlich einer erfolgreichen Behandlung der chronischen Krankheit Adipositas wichtig, sondern auch für das behandelnde Zentrum, das durch Analyse der eigenen Resultate seine Behandlungsstrategie laufend optimieren kann.

Take-Home-Messages

  • Bariatrische Operationen haben viele gewichtsunabhängige, metabole Effekte, weshalb sie als «metabole Chirurgie» bezeichnet werden.
  • Das Ziel der metabolen Chirurgie ist nebst der Gewichtsabnahme eine Verbesserung bis hin zur Remission der Komorbiditäten, die Verlängerung der Lebenserwartung und die Steigerung der Lebensqualität, was zur Kosteneffizienz beiträgt.
  • Es gibt eine hohe Evidenz dafür, dass die metabole Chirurgie bei schlecht einstellbarem Typ 2-Diabetes mellitus und BMI auch <35 kg/m2 wirksamer als eine konservative Therapie ist.
  • In der Schweiz ist die metabole Chirurgie durch Richtlinien der SMOB geregelt. Die Behandlung der Patienten sollte immer interdisziplinär erfolgen.
  • Schweizweit werden ca. 5000 Operationen jährlich durchgeführt – mit einer im internationalen Vergleich geringen Morbidität und sehr hohen Nachkontrollrate.

Literatur:

  1. Batterham RL, Cummings DE: Mechanisms of diabetes improvement following bariatric/metabolic surgery. Diabetes Care 2016; 39: 893–901.
  2. Rubino F, et al.: Metabolic surgery in the treatment algorithm for type 2 diabetes: a joint statement by international diabetes organizations. Diabetes Care 2016; 39: 861–877.
  3. Sjöström L, et al.: Lifestyle, diabetes, and cardiovascular risk factors 10 years after bariatric surgery. N Engl J Med 2004; 351: 2683–2693.
  4. Adams TD, et al.: Weight and metabolic outcomes 12 years after gastric bypass. N Engl J Med 2017; 377: 1143–1155.
  5. Sjöström L, et al.: Bariatric surgery and long-term cardiovascular events. JAMA 2012; 307: 56–65.
  6. Vinzens F, et al.: Long-term outcome of laparoscopic adjustable gastric banding (LAGB): results of a Swiss single-center study of 405 patients with up to 18 years’ follow-up. Surg Obes Relat Dis 2017; 13: 1313–1319.
  7. Peterli R, et al.: Improvement in glucose metabolism after bariatric surgery: comparison of laparoscopic Roux-en-Y gastric bypass and laparoscopic sleeve gastrectomy: a prospective randomized trial. Ann Surg 2009; 250: 234–241.
  8. Peterli R, et al.: Metabolic and hormonal changes after laparoscopic Roux-en-Y gastric bypass and sleeve gastrectomy: a randomized, prospective trial. Obes Surg 2012; 22: 740–748.
  9. Wölnerhanssen B, et al.: Effects of postbariatric surgery weight loss on adipokines and metabolic parameters: comparison of laparoscopic Roux-en-Y gastric bypass and laparoscopic sleeve gastrectomy. A prospective randomized trial. Surg Obes Relat Dis 2011; 7: 561–568.
  10. Peterli R, et al.: Effect of laparoscopic sleeve gastrectomy vs laparoscopic Roux-en-Y gastric bypass on weight loss in patients with morbid obesity: the SM-BOSS randomized clinical trial. JAMA 2018; 319: 255–265.
  11. Swiss Medical Board: Bariatric surgery vs. conservative treatment for obesity and overweight. Assessment. Final report 16 june 2016.

HAUSARZT PRAXIS 2018; 13(10): 26–29

Autoren
  • Prof. Dr. med. Ralph Peterli 
Publikation
  • HAUSARZT PRAXIS 

Die Prävalenz von Menschen mit Übergewicht und Adipositas beträgt im europäischen Raum fast 60%, zudem schätzt die Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass Adipositas für ca. 1,2 Mio. Todesfälle allein in Europa (mit)verantwortlich ist. Es werden die aktuellen Empfehlungen, Herausforderungen und Möglichkeiten der Ernährungstherapie bei Adipositas beleuchtet.

Die Prävalenz von Menschen mit Übergewicht und Adipositas beträgt im europäischen Raum fast 60%, zudem schätzt die Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass Adipositas für ca. 1,2 Mio. Todesfälle allein in Europa (mit)verantwortlich ist. Im Folgenden werden die aktuellen Empfehlungen, Herausforderungen und Möglichkeiten der Ernährungstherapie bei Adipositas beleuchtet [1,2]. 

Laut WHO werden Menschen mit einem Body-Mass-Index (BMI) über 30 kg/m² als adipös klassifiziert(Tab. 1). Es ist weitgehend bekannt, dass der BMI in seiner Aussagekraft limitiert ist, aber dennoch als schnell verfügbares «Tool» zur Risiko-Einschätzung verwendet wird [3,4]. 

Die deutschen S3 Leitlinien zur Prävention und Therapie der Adipositas aus dem Jahr 2014 von Hauner et al. [6] befinden sich zum Zeitpunkt des Ver­fassens dieses Artikel in Überarbeitung. Aufgrund dessen beruhen einige Empfehlungen in diesem Artikel auf den aktuelleren kanadischen Leitlinien «Obesity in adults: a clinical practice guideline», aus dem Jahr 2020 [1]. Diese weisen, ähnlich wie die deutschen Leitlinien, darauf hin, dass der BMI allein zur Bewertung des Risikos für Adipositas assoziierte Erkrankungen nicht aussagekräftig ist. Für eine adäquate Beurteilung wird zusätzlich eine ausführliche Anamnese und das Fettverteilungsmuster, welches mithilfe von Taillenumfang bzw. am Verhältnis zwischen Taillen- und Hüftumfang bestimmt wird, empfohlen. Für den Schweregrad könnte das «Edmonton Obesity System» herangezogen werden. Wie bekannt ist, geht Adipositas mit einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre und onkologische Erkrankungen, Diabetes Mellitus Typ 2 etc. einher. Das Risiko steigt jedoch nicht nur gemessen am BMI, sondern auch an der Fettverteilung. Zusätzlich spielen Einflüsse wie sozio­ökonomischer Status und genetische Faktoren eine wichtige Rolle [1,6]. 

Therapie durch Ernährungsfachkräfte 

Zum Management der Adipositas wird in den Leit­linien als Teil einer interdisziplinären Therapiestrategie eine individuell abgestimmte Ernährungstherapie mit einer ausgebildeten Ernährungsfachkraft empfohlen. Ähnlich fordert die European Association for the Study of Obesity(EASO), dass jeder an Adipositas erkrankte Mensch Zugang zu einer ernährungstherapeutischen Intervention durch eine Fachkraft erhalten soll [1,6,7]. Ernährungsfachkräfte haben entweder eine mehrjährige Berufsausbildung, wie Diästassistentinnen bzw. Diästassistenten in Deutschland, oder ein Bachelor- bzw. Master-Studium, wie zum Beispiel Diätologinnen/Diätologen in Österreich und Ernährungsberaterinnen/Ernährungsberater in der Schweiz [8–10]. 

Ernährungsfachkräfte und Ernährungsmediziner stehen vor der Herausforderung, dass unseriöse Empfehlungen schnell mittels Internet, Bücher, Familie, Freunde, Bekannte oder durch Gesundheitspersonal verfügbar sind. Eine Studie zeigte zum Beispiel, dass nur knapp 3% der Bücher, die das Thema Ernährung und Diäten behandeln, von ausgebildeten Ernährungsfachkräften geschrieben wurden. Bei den restlichen 97% ist auffällig, dass es sich grösstenteils um widersprüchliche Informationen handelt, viele davon nicht auf wissenschaftlichen Untersuchungen basieren und Gesundheitsversprechen mit einer gewissen Ernährungsform gemacht werden [11]. In der Praxis zeigt sich, dass Patientinnen und Patienten aufgrund des grossen Leidensdrucks häufig auf diese Informationen zurückgreifen. Jedoch fördern diese Lösungsvorschläge häufig ein rigides Essverhalten und grenzen zum Teil ganze Lebensmittelgruppen aus. Zudem sind sie nicht personalisiert und können oft schwer in den Alltag integriert werden. Auch Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten, geben Patienten in bester Absicht Ernährungstipps, welche jedoch häufig nicht auf die individuellen Bedürfnisse und Ressourcen der Patienten abgestimmt sind. Um hier einen ersten Schritt in Richtung bessere Qualität in der Betreuung zu erreichen, ist die Ernährungstherapie von Menschen mit Erkrankungen in Österreich rechtlich geregelt: nur Diätologen dürfen Ernährungsempfehlungen an Menschen mit Erkrankungen aussprechen [12]. In Deutschland darf grundsätzlich jeder beraten, jedoch wird eine ambulante Ernährungstherapie von der Krankenkasse nur (teil)finanziert, wenn auch die entsprechende Ausbildung vorliegt und ein Arzt bzw. eine Ärztin eine ärztliche Notwendigkeitsbescheinigung ausgestellt hat [13].

Risiko des «Jo-Jo-Effekts» 

In der ernährungstherapeutischen Praxis kommt es häufig vor, dass Patienten, wenn überhaupt, erst nach Jahren bis Jahrzehnten zum ersten Mal Kontakt mit einer qualifizierten Ernährungsfachkraft aufnehmen. Bis dorthin wurden teils stark einschränkende Ernährungsweisen praktiziert. Damit konnte oft kurzfristig das Gewicht reduziert werden, jedoch wurde das gesamte Gewicht oder sogar mehr im Verlauf wieder zugenommen. Dieser sogenannte «Jo-Jo-Effekt» zeigt sich als ein hochkomplexes Zusammenspiel von hormonellen, biologischen und metabolischen Vorgängen, welche nicht durch Motivation, Compliance, Adhärenz oder Willenskraft durchbrochen werden können [14]. Der Jo-Jo-Effekt ist nicht nur für die Betroffenen frustrierend, sondern wiederholte Gewichtsschwankungen können auch das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen und Diabetes Mellitus Typ 2 erhöhen [14–16]. Eine Ernährungsfachkraft kann in diesem Fall mit den Patienten eine Stabilisierung des Gewichts anstreben. Wie ein Review der «European Association for the Study of Obesity» (EASO) zeigte, ermöglicht eine durch Ernährungsfachkräfte individuell auf die Bedürfnisse der Patienten abgestimmte Ernährungsweise höhere Erfolgsquoten. Um langfristige Erfolge erzielen zu können, ist es notwendig, anhand einer ausführlichen Anamnese zu eruieren, welche Ernährungsform für die Person in den Alltag integrierbar ist. 

Als untersuchte Ernährungsformen kommen bei Adipositas unter anderem die mediterrane Ernährung, die «DASH-Diet», die nordische Ernährungsform oder auch kurzfristig ein Mahlzeitenersatzprodukt zum Einsatz [7]. Es ist somit unerlässlich, Barrieren und Förderfaktoren, wie die Wohn- und Arbeitssituation, finanzielle Ressourcen, mentale Verfassung etc., in die Empfehlungen miteinfliessen zu lassen (Abb. 1). Die Ernährungstherapie zielt weniger auf eine reine Kalorienrestriktion ab, sondern vielmehr wird versucht, das Wohlbefinden und die Gesundheit über Ernährungs- und Verhaltensänderung zu fördern. Das könnte zum Beispiel so aussehen, dass die Auswahl von ballaststoffreichen Lebensmitteln gefördert wird, um somit ein langanhaltendes Sättigungsgefühl zu erreichen und dadurch weniger Gesamtenergie aufzunehmen. Auch kann das Essen als Form der Selbstfürsorge erlernt werden, indem versucht wird, sich Zeit für regelmässige Mahlzeiten zu nehmen, um den Körper ausreichend zu versorgen und somit Heisshunger-Attacken zu vermeiden. 

Es zeigte sich, dass eine reine Kalorienreduktion nur einen kurzfristigen Effekt hat und langfristig wieder zur Gewichtszunahme führt [17]. Selbst wenn der Weg einer Pharmakotherapie mit den Patienten gewählt wird, ist laut Leitlinien eine begleitende Ernährungs- und Verhaltensumstellung empfohlen. Studien zeigten, dass nach Absetzen der Medikamente meist eine Gewichtszunahme stattfindet, wenn keine Ernährungs- bzw. Verhaltensänderung stattgefunden hat [1,18]. Auch könnte die Gefahr einer Mangelernährung bestehen, wenn während der Behandlung mit Medikamenten zur Gewichtsreduktion nicht auf eine ausreichende Protein- und Nährstoffzufuhr geachtet wird. Um den Qualitätsstandard der Ernährungstherapie zu sichern, wurden Prozessmodelle, wie zum Beispiel der «German-Nutrition-Care-Process» in Deutschland oder der diätologische Prozess in Österreich, geschaffen. Anhand dieser Prozessmodelle findet die Ernährungsfachkraft gemeinsam mit den Betroffenen einen individuellen Weg, um die Ernährungssituation zu verbessern [19,20]. 

Betroffene leiden unter Stigmatisierung

Die steigende Prävalenz von psychischen Erkrankungen und Essstörungen bei Menschen mit Adipositas ist eine weitere Herausforderung, nicht nur für Ernährungsfachkräfte, sondern auch für das Gesundheitssystem. Die mentale Gesundheit beeinflusst die Nahrungsaufnahme: Das Essen bzw. das Nicht-Essen kann ein Mechanismus zur Emotionsregulation bzw. zur Kontrolle darstellen. Zudem sind Betroffene zum Teil zusätzlich noch Gewichtsstigmatisierung und -diskriminierung ausgesetzt. Hierbei können nicht rechtzeitig erkannte Essstörungen eine Gefahr darstellen. In der Praxis ist es wichtig, insbesondere bei erfolgreichem Gewichtsverlust, auffälliges Verhalten wie zum Beispiel stark eingeschränktes Essverhalten, Bewegungszwang, Laxanzienabusus und andere gegenregulierende Mechanismen, gestörte Körperwahrnehmung und Amenorrhö ernst zu nehmen.  Hier Bedarf es eines Erkennens der Problematik und einer interdisziplinären Lösung mithilfe von Psycho-, Verhaltens- und Ernährungstherapie [1,21].

Gewichtsstigmatisierung ist eine Thematik, welche nicht nur die Ernährungstherapie, sondern generell die Gesundheitsversorgung von Menschen mit Mehrgewicht betrifft. Im Englischen «weight bias» genannt, beschreibt es die Vorurteile, welche Menschen mit Mehrgewicht und Adipositas ausgesetzt sind. Ein Beispiel dafür wäre die Annahme, dass Menschen mit Adipositas nicht ausreichend Körperhygiene betreiben, faul sind oder zu viele hochkalorische Nahrungsmittel zu sich nehmen. Häufig sind Betroffene nicht nur diesen Glaubenssätzen ausgesetzt, sondern erleben aufgrund ihrer Körperform und ihres Gewichts verbale Übergriffe, Diskriminierung und Mikro­aggres­sionen. Das kann dazu führen, dass betroffene Menschen bei gesundheitlichen Problemen aus Angst und Scham keine Gesundheitseinrichtung aufsuchen. Gewichtsdiskriminierung und -stigmatisierung können somit zu einer eingeschränkten Lebensqualität und schlechteren Gesundheitsversorgung führen und auch gestörtes Essverhalten und Essstörungen fördern [1,22,23]. 

Über das eigene Gewicht zu sprechen, kann für manche Menschen eine belastende Angelegenheit sein. Deshalb ist es in der Behandlung von Adipositas notwendig, sich über «weight-bias» und Diskriminierung von Menschen mit Mehrgewicht bewusst zu sein, den Leidensdruck zu registrieren und Beschwerden ernst zu nehmen. Für den Praxisalltag kann es hilfreich sein, sich aktiv mit der Thematik auseinanderzusetzten. Zum Beispiel könnten speziell für Menschen mit Adipositas geeignete Stühle ein erster Schritt sein, um einen sicheren Rahmen in der Praxis zu schaffen, wo Betroffene sich wohlfühlen können. Zur Hilfestellung haben die kanadischen Leitlinien einen Leitfaden für die Patientenkommunikation herausgearbeitet, welcher einen Step-by-Step-Guide zum patientenorientierten Vorgehen bietet (Abb. 2). Eine Möglichkeit, einen sensibleren Gesprächsstart zu wählen, ist es zum Beispiel, Patienten zu fragen, ob sie sich wohl fühlen, über ihr Gewicht zu sprechen. Ist der Konsens gegeben, kann mit den Patienten gemeinsam eine leit­linien­gerechte Therapiestrategie zur Verbesserung der Gesundheit herausgearbeitet werden [1].

Gewichtsneutrale Interventionen gewinnen an Bedeutung

Dazu sind sich EAOS und die kanadischen Leitlinien einig, dass das Management der Adipositas nicht nur zum Zwecke der Gewichtsreduktion durchgeführt werden sollte, sondern vor allem, um die Gesundheit zu verbessern [1,7]. Deshalb sollte eine Ernährungs­thera­pie nicht ausschliesslich auf eine Gewichtsreduktion abzielen, sondern auf eine Verbesserung der Gesundheitsparameter. In den letzten Jahren zeigte sich ein Anstieg an gewichtsneutralen Interventionen, welche nach den Prinzipien der «Intuitiven Ernährung» und/oder «Health at every Size» handeln. Diese Prinzipien werden in Gruppen bzw. im Einzelsetting durch interdisziplinäre Teams durchgeführt. Zusätzlich zu Ernährungswissen werden in einem ganzheitlichen Ansatz auch Kompetenzen wie Emotionsregulation vermittelt, das Spüren von Hunger wiedererlernt oder das Körperbild bearbeitet, um gestörtes Essverhalten zu verringern bzw. das Körperbild zu verbessern [24,25]. Wie in den kanadischen Leitlinien vermerkt, ist bisher zu wenig zu gewichtsneutralen Interventionen bei Menschen mit Adipositas geforscht worden, um diese konkret in die Empfehlungen mit einzubeziehen [3].

Zusammenfassend bietet die Ernährungstherapie durchgeführt von einer qualifizierten Ernährungsfachkraft somit eine grosse Chance in der Behandlung der Patienten mit Adipositas. Hier kann nicht eine einzige Ernährungsform oder eine Pharmakotherapie als Erfolgsrezept genannt werden. Vielmehr ist eine auf den Patienten individuell abgestimmte Ernährung, welche bedarfs- und bedürfnisorientiert ist, empfohlen. Je individueller die Therapie gestaltet wird, desto grösser sind die langfristigen Erfolgschancen. Eine individuelle Therapie kann somit auch bedeuten, dass statt einer Gewichtsabnahme eine Gewichtstabilisierung angestrebt wird. Dies kann dazu beitragen, die negativen Folgen des Jo-Jo-Effekts zu vermeiden, die Gesundheit zu fördern und gleichzeitig die Lebensqualität zu verbessern. Zudem bedarf es einer engen interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen allen Gesundheitsberufen, um die Versorgung von Menschen mit Adipositas und psychischen Erkrankungen zu gewährleisten. Hier kann jeder im Einzelnen einen Unterschied bewirken, indem Vorurteile bzw. der Umgang mit Menschen mit Adipositas und Mehrgewicht selbstkritisch reflektiert werden. In Zukunft könnten auch gewichtsneutrale Interventionen eine grössere Rolle einnehmen, da ein Erfolg der Therapie nicht nur an Gewichtsverlust gemessen wird. Vielmehr können Gesundheitsparameter unabhängig vom Gewicht durch Ernährungs- und Verhaltensänderung verbessert werden. Hierzu bedarf es jedoch weiterer Studien, um konkrete Empfehlungen in evidenzbasierte Leitlinien zu integrieren. 

Take-Home-Messages

  • Der BMI allein ist zur Bewertung des Risikos für Adipositas-assoziierte Erkrankungen nicht aussagekräftig. Für eine adäquate Beurteilung wird zusätzlich eine ausführliche Anamnese und das Fettverteilungsmuster, welches mithilfe von Taillenumfang bzw. am Verhältnis zwischen Taillen- und Hüftumfang bestimmt wird, empfohlen.
  • Um die Qualität und Sicherheit in der Ernährungstherapie zu gewährleisten, ist die Ernährungstherapie von Menschen mit Erkrankungen in Österreich rechtlich geregelt: nur Diätologen dürfen Ernährungsempfehlungen an Menschen mit Erkrankungen aussprechen.
  • Der  «Jo-Jo-Effekt» zeigt sich als ein hochkomplexes Zusammenspiel von hormonellen, biologischen und metabolischen Vorgängen, welche nicht durch Motivation, Compliance, Adhärenz oder Willenskraft durchbrochen werden können.
  • Auch bei Pharmakotherapie zur Gewichtsreduktion ist eine begleitende Ernährungs- und Verhaltensumstellung empfohlen. Studien zeigten, dass nach Absetzen der Medikamente meist eine Gewichtszunahme stattfindet, wenn keine Ernährungs- bzw. Verhaltensänderung stattgefunden hat.
  • Ernährungstherapie bei Adipositas sollte nicht nur zum Zwecke der Gewichtsreduktion durchgeführt werden, sondern vor allem, um die Gesundheit und Lebensqualität zu verbessern.

Literatur:

  1. Wharton S, Lau DCW, Vallis M, et al.: Obesity in adults: a clinical practice guideline. Can Med Assoc J 2020; 192(31): E875–891. 
  2. Neuer Bericht der WHO: Europa kann seine Adipositas-«Epidemie» umkehren. www.who.int/europe/de/news/item/03-05-2022-new-who-report–europe-can-reverse-its-obesity–epidemic (letzter Zugriff: 25.01.2024). 
  3. Obesity and overweight. www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/obesity-and-overweight(letzter Zugriff: 10.01.2024).
  4. Ahima RS, Lazar MA: The Health Risk of Obesity – Better Metrics Imperative. Science 2013; 341(6148): 856–858. 
  5. A healthy lifestyle – WHO recommendations. www.who.int/europe/news-room/fact-sheets/item/a-healthy-lifestyle—who-recommendations (letzter Zugriff: 19.01.2024).
  6. Hauner H, Moss A, Berg A, et al.: Interdisziplinäre Leitlinie der Qualität S3 zur «Prävention und Therapie der Adipositas»: der Deutschen Adipositas-Gesellschaft e.V.; der Deutschen Diabetes Gesellschaft; der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e.V.; der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin e.V. Version 2.0 (April 2014); AWMF-Register Nr. 050-001. Adipositas – Ursachen Folgeerkrankungen Therapie 2014; 08(04): 179–221. 
  7. Hassapidou M, Vlassopoulos A, Kalliostra M, et al.: European Association for the Study of Obesity Position Statement on Medical Nutrition Therapy for the Management of Overweight and Obesity in Adults Developed in Collaboration with the European Federation of the Associations of Dietitians. Obes Facts 2023; 16(1): 11–28. 
  8. SVDE ASDD – Schweizerischer Verband der Ernährungsberater/-innen. Grundausbildung/Studium. https://svde-asdd.ch/bildung/grundausbildung-studium/ (letzter Zugriff: 10.01.2024).
  9. Diätologen: Ausbildung. www.diaetologen.at/diaetologie/ausbildung (letzter Zugriff: 10.01.2024).
  10. Diätassistenten – die Experten für Ernährung | VDD. www.vdd.de/diaetassistenten (letzter Zugriff: 10.01.2024).
  11. Marton RM, Wang X, Barabási AL, Ioannidis JPA: Science, advocacy, and quackery in nutritional books: an analysis of conflicting advice and purported claims of nutritional best-sellers. Palgrave Commun 2020; 6(1): 43. 
  12. Bundesgesetz über die Regelung der gehobenen medizinisch-technischen Dienste (MTD-Gesetz) StF: BGBl. Nr. 460/1992 (NR: GP XVIII RV 202 AB 615 S. 78. BR: AB 4332 S. 557.). 
  13. DGE: Ernährungstherapie: Vereinfachte Empfehlung dank aktualisierter «Ärztlicher Notwendigkeitsbescheinigung». www.dge.de/presse/meldungen/2023/ernaehrungstherapie-vereinfachte-empfehlung-dank-aktualisierter-aerztlicher-notwendigkeitsbescheinigung (letzter Zugriff: 22.01.2024).
  14. Busetto L, Bettini S, Makaronidis J, et al.: Mechanisms of weight regain. Eur J Intern Med 2021; 93: 3–7. 
  15. Ceriello A, Lucisano G, Prattichizzo F, et al.: Variability in body weight and the risk of cardiovascular complications in type 2 diabetes: results from the Swedish National Diabetes Register. Cardiovasc Diabetol 2021; 20(1): 173. 
  16. Park KY, Hwang HS, Cho KH, et al.: Body Weight Fluctuation as a Risk Factor for Type 2 Diabetes: Results from a Nationwide Cohort Study. J Clin Med 2019; 8(7): 950. 
  17. Brown J, Clarke C, Johnson Stoklossa C, Sievenpiper J.: Canadian Adult Obesity Clinical Practice Guidelines: Medical Nutrition Therapy in Obesity Management. Available from: https://obesitycanada.ca/guidelines/nutrition
  18. Pedersen SD, Manjoo P, Wharton S: Canadian Adult Obesity Clinical Practice Guidelines: Pharmacotherapy for Obesity Management. Available from: https://obesitycanada.ca/guidelines/pharmacotherapy.
  19. German-Nutrition Care Prozess | VDD. www.vdd.de/fuer-experten/german-nutrition-care-process (letzter Zugriff: 22.01.2024).
  20. Diätologen: Diaetologischer Prozess. www.diaetologen.at/
    diaetologie/diaetologischer-prozess
     (letzter Zugriff: 22.01.2024).
  21. Burnatowska E, Surma S, Olszanecka-Glinianowicz M: Relationship between Mental Health and Emotional Eating during the COVID-19 Pandemic: A Systematic Review. Nutrients 2022; 14(19): 3989. 
  22. World Obesity Federation: Weight Stigma. www.worldobesity.org/what-we-do/our-policy-priorities/weight-stigma (letzter Zugriff: 20.01.2024).
  23. Alberga AS, Russell-Mayhew S, von Ranson KM, McLaren L: Weight bias: a call to action. J Eat Disord 2016; 4: 34. 
  24. Tribole E, Resch E: Intuitive eating: a revolutionary anti-diet approach. 4th edition. New York: St. Martin’s Essentials 2020.
  25. Grundl M, Brandacher J: Einfluss von Intuitiver Ernährung auf Körperwahrnehmung und gestörtes Essverhalten – Beobachtungsstudie zu einer Online-Gruppenintervention (#81). Adipositas – Ursachen, Folgeerkrankungen, Therapie 2022; 16(03): 177; doi: 10.1055/s-0042-1755696.

InFo NEUROLOGIE & PSYCHIATRIE 2024; 14–17

Autoren
  • Julia Brandacher, BSc. 
Publikation
  • INFO NEUROLOGIE & PSYCHIATRIE