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Das Lennox-Gastaut-Syndrom und das Dravet-Syndrom sind seltene und schwere entwicklungsbedingte und epileptische Enzephalopathien mit Beginn im Säuglings- oder frühen Kindesalter. Neben den Anfällen treten häufig Komorbiditäten auf, die sowohl für die Patienten als auch ihre Betreuer eine erhebliche physische, finanzielle, soziale und psychische Belastung darstellen. Daher sollte ein modernes Therapiemanagement nicht allein auf die Anfallskontrolle zielen.

Epilepsie kann sich im Kindesalter unterschiedlich manifestieren. Das Dravet-Syndrom (DS) tritt bereits im Säuglingsalter auf und ist gekennzeichnet durch Infekt-Assoziierte fokale und generalisierte Anfälle. Ein Status epilepticus ist häufig, wodurch oft eine stationäre Notfalltherapie indiziert ist, berichtete Prof. Dr. med. Regina Trollmann, Erlangen (D). Im Laufe der Zeit kann es zu Entwicklungsstörungen und Komorbiditäten kommen. Hierbei konnte eine Korrelation der Anfallshäufigkeit und -schwere mit Komorbiditäten und der Lebensqualität festgestellt werden. Das Lennox-Gastaut Syndrom (LGS) manifestiert sich meist zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr und zeichnet sich durch eine schwere epileptische Enzephalopathie (DEE) aus. 90% der Anfälle sind refraktär, sodass das Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko deutlich erhöht sind. Als Komorbiditäten treten häufig Verhaltensstörungen, wie beispielsweise Hyperaktivität, Aggression und autistische Züge, Störungen des Schlafzyklus sowie eine eingeschränkte Mobilität auf. Entwicklungs- und epileptische Enzephalopathien sind mit einer hohen Frequenz klinischer Anfälle und interiktaler Anfallsmuster assoziiert – und häufig mit einer Pharmakoresistenz. Bei Kindern mit Epilepsie liegt die Pharmakoresistenz bei 28–36%, so die Expertin. 

Cannabidiol Fertigarznei auf einen Blick
Epidyolex® wird als Zusatztherapie von Krampfanfällen im Zusammenhang mit dem Lennox-Gastaut-Syndrom (LGS) oder dem Dravet-Syndrom (DS) in Verbindung mit Clobazam bei Patienten ab 2 Jahren angewendet.
Die flexible und schrittweise Dosierung kann ganz auf die Bedürfnisse der Patienten abgestimmt werden.
Es konnte bei LGS- und DS-Patienten in einem breiten Spektrum von Anfallstypen und Altersgruppen eine Verbesserung der anfallsbezogenen Ziele nachgewiesen werden.
Auch eine Verbesserung der nicht-anfallsbezogenen Ziele wie z.B. Kognition, Verhalten und Kommunikation konnte beobachtet werden. 
Die Fertigarznei zeichnet sich durch eine langanhaltende und gute Verträglichkeit aus.

Effektive Behandlung mit Cannabidiol

Eine deutliche Reduktion des Anfallsfrequenz sowohl bei DS als auch LGS konnte in mehreren klinischen Studien für Cannabidiol (CBD), der nicht-psychoaktiven Komponente von Cannabis, nachgewiesen werden. Doch darüber hinaus legen präklinische Daten auch antiinflammatorische und antioxidative Effekte auf verschiedene neurogliale Strukturen sowie Effekte auf das Verhalten nahe. Eine offene Extensionsstudie zeigte zudem, dass es innerhalb von 156 Wochen unter der Behandlung mit Cannabidiol zu einer Reduktion der Sturzanfälle um 48–71% kam. Aktuelle Real-World-Daten belegen nun, dass das moderne Behandlungsmanagement mehr kann, als eine effektive Anfallskontrolle zu generieren. Die BEhavior, COgnition, and More with Epidiolex® (BECOME) war eine 20-minütige Online-Querschnittsbefragung, die mit umfangreichem Input von Pflegekräften, medizinischen Fachkräften und Epilepsieforschern entwickelt wurde und auf Fragen aus validierten Messungen und zuvor veröffentlichten Berichten von Pflegekräften basierte. In den USA ansässige Betreuer von Menschen mit LGS oder DS, die seit ≥3 Monaten mit CBD (Epidiolex®, 100 mg/ml orale Lösung) behandelt wurden, wurden gebeten, den letzten Monat mit dem Zeitraum vor der CBD-Behandlung zu vergleichen und ihren Eindruck von Veränderungen anhand symmetrischer Likert-Skalen zu bewerten. Insgesamt 498 Betreuer (97% Eltern) von Patienten mit LGS (80%) oder DS (20%) füllten die Umfrage aus. Die Patienten nahmen im Median eine CBD-Dosis von 14 mg/kg/d und durchschnittlich gleichzeitig vier Medikamente gegen Anfälle ein. Ein Grossteil der Befragten berichtete über Verbesserungen bei mindestens einer Frage in allen anfallsfreien Bereichen: Wachsamkeit, Kognition und Exekutivfunktion (85%); emotionale Funktion (82%); Sprache und Kommunikation (79% bei nonverbalen und 74% bei verbalen ­Patienten); Aktivitäten des täglichen Lebens (51%); Schlaf (51%); und körperliche Funktion (46%). Die Befragten berichteten über Verbesserungen in anfallsbezogenen Bereichen, einschliesslich der allgemeinen Anfallshäufigkeit (85%), der allgemeinen Anfallsschwere (76%), der anfallsfreien Tage pro Woche für ≥1 Anfallstyp (67%) und der Anfallsfreiheit im letzten Monat (16%). Die Mehrheit der Befragten, die über eine Verringerung der Anfallshäufigkeit berichteten, meldeten auch Verbesserungen in anfallsfreien Bereichen (5–80%). Verbesserungen in anfallsfreien Bereichen (18–56%) wurden allerdings auch von Patienten berichtet, bei denen sich die Anfallshäufigkeit entweder nicht verändert oder verschlechtert hatte. 93% der Befragten gaben an, die CBD-Behandlung fortsetzen zu wollen. Die Gründe dafür lagen sowohl in der geringeren Anfallsbelastung, als auch in der Verbesserung der nicht-anfallsbezogenen Komorbiditäten, fasste die Expertin zusammen.

Quelle: Pressegespräch «Beyond Seizures – Einblicke in die Therapie schwer zu behandelnder, seltener Epilepsie­formen von Kindern und Erwachsenen», 16.05.2024. Jazz Pharmaceuticals.

Weiterführende Literatur:

  • Berg AT, Dixon-Salazar T, Meskis MA, et al.: Caregiver-reported outcomes with real-world use of cannabidiol in Lennox-Gastaut syndrome and Dravet syndrome from the BECOME survey. Epilepsy Research 2024; 200: 107280.
  • Rosenberg EC, Chamberland S, Bazelot M et al. Cannabidiol modulates excitatory-inhibitory ratio to counter hippocampal hyperactivity. Neuron 2023; 111(8): 1282–1300.e8.
  • Patel AD, Mazurkiewicz-Bełdzińska M, Chin RF et al. Long-term safety and efficacy of add-on cannabidiol in patients with Lennox-Gastaut syndrome: Results of a long-term open-label extension trial. Epilepsia 2021; 62(9): 2228–2239.
  • EPIDYOLEX® Fachinformation, aktueller Stand. swissmedicinfo.ch.

InFo NEUROLOGIE & PSYCHIATRIE 2024; 22(3): 31

Autoren
  • Leoni Burggraf 
Publikation
  • INFO NEUROLOGIE & PSYCHIATRIE 

Der Einsatz von Cannabis in der Medizin wird kontrovers diskutiert. Vor allem im Schmerzmanagement konnten in den letzten Jahren Erfolge verzeichnet werden. Doch auch bei Epilepsie wird die Gabe in Betracht gezogen. Eine Analyse hat nun die Glaubwürdigkeit und Sicherheit von Zusammenhängen zwischen Cannabis, Cannabinoiden und cannabisbasierten Arzneimitteln und der menschlichen Gesundheit anhand von Beobachtungsstudien und randomisierten kontrollierten Studien (RCTs) systematisch bewertet.

(red) Cannabis enthält über 100 Cannabinoide, von denen Δ9-Tetrahydrocannabinol und Cannabidiol die klinisch relevantesten sind. Tetrahydrocannabinol ist ein partieller Agonist an CB1 und bindet CB2-Rezeptoren. CB1 wird in grossem Umfang von zentralen und peripheren Neuronen, aber auch von Immunzellen und anderen Zelltypen im Gehirn und in der Peripherie exprimiert, und wenn es sich mit Tetrahydrocannabinol verbindet, wird ein so genannter Rausch ausgelöst, der für einen möglichen Missbrauch verantwortlich ist. CB2-Rezeptoren werden ebenfalls von Neuronen exprimiert, jedoch in geringerem Masse als CB1, und sind am häufigsten in Immunzellen zu finden. Cannabidiol erzeugt jedoch keinen Rausch und birgt daher nicht das gleiche Potenzial für Substanzmissbrauch. Darüber hinaus scheint Cannabidiol keine psychoseauslösenden Wirkungen zu fördern. 

Nach Alkohol und Tabak steht der Cannabiskonsum an dritter Stelle unter den konsumierten Substanzen des Missbrauchs. Die Prävalenz von Cannabiskonsumstörungen in den USA wird auf etwa 6,3% im gesamten Leben und 2,5% in den letzten 12 Monaten geschätzt, und in Europa gaben etwa 15% der 15- bis 35-Jährigen an, im vergangenen Jahr Cannabis konsumiert zu haben. Von den Cannabiskonsumenten entwickelte jeder Dritte Probleme im Zusammenhang mit dem Cannabiskonsum, die die Funktionsfähigkeit beeinträchtigten. Es gibt Hinweise darauf, dass Cannabis schädlich für die psychische und körperliche Gesundheit sowie für die Sicherheit im Strassenverkehr sein kann. Umgekehrt wurde Cannabidiol vor mehr als einem Jahrzehnt als Kandidat für
die Behandlung neurologischer Erkrankungen wie behandlungsresistenter Epilepsie bei Kindern vorgeschlagen. Darüber hinaus wurde vorgeschlagen, dass diese Substanz bei Angst- und Schlafstörungen und sogar als Zusatztherapie bei Psychosen nützlich sein könnte. Zudem wurden Medikamente auf Cannabisbasis als mögliche Behandlungsmethoden für verschiedene Erkrankungen und Symptome untersucht.

Systematische Bewertung der Studienliteratur

Die Veröffentlichung von Meta-Analysen, die die Auswirkungen von Cannabinoiden auf die Gesundheit und andere Ergebnisse untersuchen, hat erheblich zugenommen. Die meisten meta-analytischen Ergebnisse fassen jedoch Daten aus Beobachtungsstudien zusammen und sind anfällig für mehrere Quellen der Verzerrung. Bislang hat keine übergreifende Übersichtsarbeit die Belege für Cannabis, Cannabinoide und cannabisbasierte Arzneimittel und gesundheitliche Ergebnisse beim Menschen aus Meta-Analysen, die sowohl Beobachtungsstudien als auch randomisierte kontrollierte Studien umfassen, systematisch bewertet. Ziel einer Arbeit war es daher, den Umfang, die Qualität, die Glaubwürdigkeit und die Sicherheit der Zusammenhänge zwischen Cannabis, Cannabinoiden und cannabisbasierten Arzneimitteln und der menschlichen Gesundheit systematisch zu bewerten. 

Sicherheit und Wirksamkeit im Fokus

Dafür wurden 101 Meta-Analysen in die Untersuchung einbezogen. Aus den RCTs, die mit hoher bis mässiger Sicherheit unterstützt wurden, ging hervor, dass cannabisbasierte Arzneimittel vermehrt zu unerwünschten Ereignissen im Zusammenhang mit dem zentralen Nervensystem, psychologischen Auswirkungen und das Sehvermögen bei Menschen mit gemischten Erkrankungen führten, jedoch Übelkeit/Erbrechen, Schmerzen, Spastik verbesserte. Was das therapeutische Potenzial von Arzneimitteln auf Cannabisbasis anbelangt, so wirkte sich Cannabidiol positiv auf die Verringerung von Krampfanfällen bei bestimmten Epilepsieformen bei Kindern und Erwachsenen aus, darunter das Lennox-Gastaut-Syndrom, das Dravet-Syndrom und andere Epilepsieformen. Cannabidiol erhöhte zwar das Risiko für Durchfall und Somnolenz, hatte keine Auswirkungen auf die Schlafstörungen, aber verringerte die Anfälle bei verschiedenen Populationen und Massnahmen, verbesserte den Gesamteindruck und die Lebensqualität. Bei Multipler Sklerose verbesserten Cannabinoide die Spastik und die Schmerzen, erhöhten jedoch das Risiko von Schwindel, Mundtrockenheit, Übelkeit und Schläfrigkeit. 

Alles in allem konnte gezeigt werden, dass Cannabidiol vor allem bei Menschen mit Epilepsie wirksam ist. Darüber hinaus sind Medikamente auf Cannabisbasis bei Menschen mit Multipler Sklerose, chronischen Schmerzen, entzündlichen Darmerkrankungen und in der Palliativmedizin wirksam, jedoch nicht ohne Nebenwirkungen. Somit könnten cannabisbasierte Arzneimittel eine sinnvolle Option für Menschen mit Epilepsie, für chronische Schmerzen bei verschiedenen Erkrankungen, für Muskelspastizität bei Multipler Sklerose, für Übelkeit und Erbrechen in gemischten klinischen Populationen sowie für den Schlaf bei Krebspatienten sein.

Quelle: Solmi M, et al.: Balancing risks and benefits of cannabis use: umbrella review of meta-analyses of randomised controlled trials and observational studies. BMJ. 2023; 382: e072348.

InFo NEUROLOGIE & PSYCHIATRIE 2024; 22(3): 24

Publikation
  • INFO NEUROLOGIE & PSYCHIATRIE 

Bei therapierefraktären Epilepsien ist die Rate an psychischen Syndromen mit einem Auftreten in einem von drei Patienten deutlich höher als in der Allgemeinbevölkerung [1]. Hierbei stehen affektive und Angststörungen im Vordergrund. Anders herum betrachtet haben Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen ein höheres Risiko, eine Epilepsie zu entwickeln. Diese Beobachtungen lassen darauf schliessen, dass gemeinsame pathogenetische Mechanismen vorliegen.

Im Alltag scheint das Auftreten psychiatrischer Komorbiditäten bei rasch und erfolgreich behandelten Epilepsien in etwa gleich häufig zu sein wie bei der Normalbevölkerung. Anders verhält es sich bei den therapierefraktären Epilepsien, bei denen die Rate an psychischen Syndromen mit einem Auftreten in einem von drei Patienten deutlich höher ist als in der Allgemeinbevölkerung [1]. Hierbei stehen affektive und Angststörungen im Vordergrund. Anders herum betrachtet haben Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen ein höheres Risiko, eine Epilepsie zu entwickeln. Diese Beobachtungen lassen darauf schliessen, dass gemeinsame pathogenetische Mechanismen vorliegen.

Da das Vorliegen einer psychischen Störung den Verlauf der Behandlung einer Epilepsie massgeblich beeinflussen kann, sollte eine psychiatrische Anamnese bei diesen Patienten zum Standard gehören [2]. Bei der Beurteilung der psychischen Störung sollte auf den zeitlichen Verlauf zwischen dem Auftreten der psychischen Störung und dem epileptischen Ereignis geachtet werden. Es werden psychische Störungen als Ausdruck eines epileptischen Anfalls von interiktalen psychischen Störungen unterschieden. Um diesem Sachverhalt Rechnung zu tragen, wurde von der Internationalen Liga gegen Epilepsie (ILAE) eine eigene Klassifikation der psychischen Störungen entworfen. Weiter sollten auch psychische Störungen, die ggf. unabhängig von der Epilepsie auftreten, beachtet werden. Auf Grund des weiten Feldes werden im Folgenden nur einige der im klinischen Alltag relevanten Aspekte beleuchtet.

Psychosen bei Epilepsie

Die psychotischen Störungen bei Epilepsie werden in Bezug auf ihr Auftreten zu epileptischen Anfällen in iktale, postiktale und interiktale Psychosen unterteilt, wobei diese v.a. bei Patienten mit Temporallappenepilepsie auftreten [3].

Postiktale Psychosen sind durch ein plötzliches Auftreten nach einem epileptischen Anfall gekennzeichnet und dauern in der Regel zwischen 16 Stunden und 18 Tagen, wobei das Mittel bei 3–4 Tagen liegt. Charakteristisch ist hierbei ein luzides Intervall von bis zu 24 Stunden zwischen dem Anfall und dem Beginn der Psychose, in dem das Bewusstsein des Patienten nicht getrübt ist. Bei schwerer Ausprägung kann eine symptomatische Behandlung mit Neuroleptika oder Benzodiazepinen indiziert sein, ansonsten remittiert die Symptomatik spontan. Diskutiert wird, ob es sich bei postiktalen Psychosen um eine zeitlich begrenzte, anfallsabhängige autoantikörper-vermittelte Enzephalopathie handelt. Im Verlauf entwickeln ca. 14–20% dieser Patienten eine interiktale Psychose [4].

Interiktale Psychosen treten in der Regel Jahre bis Jahrzehnte nach Beginn einer chronisch therapierefraktären Epilepsie auf. Sie unterscheiden sich von primären Schizophrenien im klinischen Eindruck dahingehend, dass selten eine positive Familienanamnese vorliegt, Negativsymptome selten stark ausgeprägt sind und trotz Chronizität oft ein benigner Verlauf vorliegt. Für eine interiktale Psychose spricht ausserdem, dass der Krankheitsbeginn in der Regel jenseits des zweiten oder dritten Lebensjahrzehntes liegt und die Exekutiv- und Kommunikativfunktionen trotz chronischer Wahnsymptomatik erhalten sind. Im klinischen Alltag werden interiktale Psychosen wie schizophreniforme Primärerkrankungen behandelt.

Durch Antikonvulsiva ausgelöste Psychosen können im Rahmen einer forcierten Normalisierung bei besonders effektiven Antikonvulsiva entstehen, wobei hier der Mechanismus noch unklar ist [5]. Unter forcierter Normalisierung versteht man eine nach Beginn eines neuen Antiepileptikums einsetzende rasche Besserung von EEG-Auffälligkeiten, welche jedoch mit dem Auftreten psychotischer Symptome verbunden sind. Bei der Behandlung von psychotischen Syndromen mit atypischen Neuroleptika wie Quetiapin, Olanzapin und Risperidon ist das Anfallsrisiko mit 0,3–0,9% relativ gering, weswegen diesen Clozapin, das ein Anfallsrisiko von ca. 3,5% hat, vorzuziehen ist.

Affektive Störungen bei Epilepsie

Die prodromale, die postiktale und die interiktale Dysphorie sind durch die gleichen klinischen Symptome wie z.B. Dünnhäutigkeit, Reizbarkeit und Aggressivität gekennzeichnet. Im Verlauf kann sich die initial noch anfallsgebundene prä- oder postiktale Dysphorie vom erkennbaren Anfallsgeschehen entkoppeln und auch interiktal auftreten. Klinisch stehen dann kurze Phasen (Stunden bis Tage) mit oben genannter Symptomatik im Vordergrund, welche durch das Interictal Dysphoric Disorder Inventory (IDDI) diagnostiziert werden können [6].

Patienten mit Epilepsie bekommen mit einer 43% höheren Wahrscheinlichkeit eine unipolare Depression. Wobei nach neusten Studien 21,9% der Patienten in Epilepsiekliniken eine schwere Depression und Frauen eine deutlich höherer Prävalenz (26,4% vs. 16,7%) haben [7]. Zum spezifischen Screening eignen sich hierbei Instrumente wie das Neurological Disorders Depression Inventory für Epilepsie (NDDI-E) [8], das auch in einer deutschsprachigen Fassung vorliegt [9]. Die Behandlung wird gemäss den Guidelines für die Behandlung von Depressionen empfohlen [10]. Zur medikamentösen Behandlung können moderne Antidepressiva wie z.B. SSRIs und SNRIs eingesetzt werden. Die Angst, diese Medikamente könnten die Anfallshäufigkeit erhöhen, ist aufgrund der klinischen Erfahrung und der verfügbaren Datenlage unbegründet [8].

Angstsyndrome

Klinisch ist es häufig schwer, Angstsymptome von depressiven Symptomen zu trennen, da diese in der Praxis Hand in Hand gehen. Patienten mit Epilepsie leiden häufiger an Angststörungen als die gesunde Normalbevölkerung. Ein spezifisches Screeninginstrument für diese Subgruppe gibt es jedoch nicht [11]. Eine kürzlich aufgetretene Depression, Medikamentennebenwirkungen, geringe Bildung, chronisch reduzierter Gesundheitsstatus, weibliches Geschlecht und Arbeitslosigkeit können Risikofaktoren für das Entstehen einer Angsterkrankung sein [12].

Klinisch kann zwischen iktalen sowie periiktalen Angstphänomenen, psychoreaktiver Angst vor Anfällen, spezifischen Phobien, Angst als Folge einer antikonvulsiven Medikation sowie Angst als Teilaspekt anderer psychischer Störungen unterschieden werden.

Den iktalen Angstsyndromen kommt eine besondere Bedeutung zu, da diese sehr häufig sind. Zu erwähnen sind dabei die Angstauren bei mesialer Temporallappenepilspie, bei denen höchstwahrscheinlich eine Beteiligung der Amygdala im Anfallsgeschehen vorliegt. Im Alltag kann es deswegen schwierig sein, zwischen einer Panikstörung und einer iktalen Angst im Sinne eines einfach-fokalen Anfalls zu differenzieren [13]. Hinweise auf eine Panikstörung können hierbei spezifische Auslösebedingungen in Stresssituationen oder die Gerichtetheit der Angst auf ein Ereignis bzw. Objekt (e.g. Herzinfarkt etc.) sein.

Periiktale Angstsyndrome als prä- und postiktale Phänomene sind integrale Bestandteile der dysphorischen Störung bei Epilepsie und mit einer Prävalenz von ca. 45% bei therapierefraktären fokalen Epilepsien häufig. Die im Rahmen der Epilepsie vorkommende psychoreaktive Angst vor erneuten Anfällen und deren Folgen kann im Verlauf eine Eigendynamik entwickeln, welche sehr belastend ist und eine deutliche Einschränkung der Lebensqualität darstellt.

Agoraphobien und soziale Phobien sind im Kontext der Epilepsie als spezifische Phobien anzutreffen. Die Patienten entwickeln eine grosse Angst, in der Öffentlichkeit Anfälle zu erleiden, bewusstlos zu werden oder den Blicken Schaulustiger ausgeliefert zu sein. Obwohl es sich hierbei um eine psychoreaktiv angemessene Furcht handelt, sollte eine kognitive Verhaltenstherapie in Erwägung gezogen werden, wenn aus Furcht resultierendes Vermeidungsverhalten den Alltag der Betroffenen zunehmend einschränkt.
Angstsymptome können jedoch auch iatrogen durch antikonvulsive Medikamente ausgelöst werden, weswegen eine Analyse des zeitlichen Zusammenhangs des Beginns der Angstsymptomatik mit einem Neubeginn oder einer Dosiserhöhung des Antiepileptikums wegweisend in der Diagnostik sein kann [14].

Dissoziative Anfälle

Bei dissoziativen Anfällen handelt es sich um psychisch bedingte nichtepileptische Anfälle, welche durch plötzliche Änderungen in Verhalten und Bewusstsein charakterisiert sind, jedoch nicht mit Veränderungen in der EEG-Aktivität, wie es bei einem epileptischen Anfall zu erwarten wäre, einhergehen. Diese treten etwa bei 10% der Patienten mit einer bestehenden Epilepsie auf [15]. Die Patienten sollten darin geschult werden, zwischen den beiden Arten von Anfällen zu unterscheiden, um die Aufzeichnung im Anfallskalender für epileptische Anfälle verlässlicher zu machen [16]. Dies erweist sich im Alltag für die Betroffenen oft als schwierig. Die Therapie bei komorbid auftretenden epileptischen und dissoziativen Anfällen bedingt eine sehr enge Kooperation zwischen epileptologischer und psychotherapeutischer Behandlung.

Zusammenfassung

Generell stellt das Erreichen von Anfallsfreiheit den wichtigsten Faktor für die psychische Gesundheit von Patienten mit Epilepsie dar. Da psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen bei dieser Patientengruppe häufig unterdiagnostiziert sind und auch das Suizidrisiko im Vergleich zur gesunden Normalbevölkerung um ein Dreifaches erhöht ist, sollte die Erhebung eines psychopathologischen Befundes und ggf. die Einleitung einer entsprechenden Behandlung zur klinischen Routine gehören.

Take-Home-Messages

  • Patienten mit Epilepsie sollten routinemässig auf das Vorliegen von komorbiden psychiatrischen Störungen gescreent werden.
  • Depression und Angsterkrankungen können die Lebensqualität von Epilepsiepatienten zuweilen mehr beeinträchtigen als die Anfälle selber.
  • Die meisten modernen Antidepressiva können im Hinblick auf etwaige prokonvulsive Risiken ohne Bedenken zur thymoleptischen/anxiolytischen Therapie bei Epilepsiepatienten eingesetzt werden.
  • Kognitiv-behaviorale und andere anerkannten psychotherapeutischen Verfahren sind insbesondere bei Angststörungen, aber auch bei Depressionen und Copingschwierigkeiten indiziert.

Literatur:

  1. Kanner AM: Depression in epilepsy: prevalence, clinical semiology, pathogenic mechanisms, and treatment. Biol Psychiatry 2003; 54: 388–398.
  2. Kanner AM: Psychiatric comorbidities in new onset epilepsy: Should they be always investigated? Seizure 2017; 49: 79–82.
  3. Hilger E, et al.: Psychosis in epilepsy: A comparison of postictal and interictal psychoses. Epilepsy & Behavior 2016; 60: 58–62.
  4. Pollak TA, et al.: Epilepsy-related psychosis: A role for autoimmunity? Epilepsy & Behavior 2014; 36: 33–38.
  5. Kawakami Y, Itoh Y: Forced normalization: Antagonism between epilepsy and psychosis. Pediatric Neurology 2017; 70: 16–19.
  6. Mula M: The interictal dysphoric disorder of epilepsy: Legend or reality? Epilepsy & Behavior 2016; 58: 7–10.
  7. Kim M, et al.: Major depressive disorder in epilepsy clinics: A meta-analysis. Epilepsy & Behavior 2018; 84: 56–69.
  8. Elger CE, et al.: Diagnosing and treating depression in epilepsy. Seizure 2017; 44: 184–193.
  9. Metternich B, et al.: Validation of a German version of the Neurological Disorders Depression Inventory for Epilepsy (NDDI-E). Epilepsy & Behavior 2012; 25: 485–488.
  10. DGPPN, BÄK, KBV, AWMF: S3-Leitlinie/Nationale Versorgungsleitlinie Unipolare Depression, Langfassung. AWMF-Register-Nr.: NVL-005; 2. Auflage, 2015, Version 5.
  11. Brandt Ch, Mula M: Anxiety disorders in people with epilepsy. Epilepsy & Behavior 2016; 59: 87–91.
  12. Mensah SA, et al.: A community study of the presence of anxiety disorder in people with epilepsy. Epilepsy & Behavior 2007; 6: 28.
  13. Johnson AL, et al.: Panic and epilepsy in adults: A systematic review. Epilepsy & Behavior 2018; 85: 115-119.
  14. Van Elst LT, Perlov E: Epilepsie und Psyche. Kohlhammer 2013.
  15. Lesser RP, et al.: Evidence for epilepsy is rare in patients with psycogenic seizures. Neurology 1983; 33: 502504.
  16. Bodde NMG, et al.: Psycogenetic non-epileptic seizures – Definition, etiology, treatment and prognostic issues: A critical review. Seizure 2009; 18: 543–553.

InFo NEUROLOGIE & PSYCHIATRIE 2018; 16(5): 30–32

Autoren
  • Dr. med. Esther Wiencke 
  • Dr. phil. Matthias Schmutz 
Publikation
  • INFO NEUROLOGIE & PSYCHIATRIE 

Auch dieses Jahr gab es auf den Trend­tagen Gesundheit in Luzern wieder viele interessante Vorträge zu hören. Alles drehte sich um Benchmarking im Gesundheitswesen: sinnvoll, nicht sinnvoll? Und wie sieht Benchmarking in der Praxis aus? PD Dr. med. Claudia Steurer-Stey, Zürich, stellte den Teilnehmern das Konzept des QualiCCare im Bereich COPD vor und brachte somit ein Beispiel aus der aktuellen Praxis zum Thema Benchmarking.

QualiCCare ist ein nationales Projekt, das die Verbesserung der Patientenbetreuung in der Schweiz anhand der Implementierung von sog. Best Practice Standards in der Prävention und Versorgung von chronischen Krankheiten zum Ziel hat. Das Konzept wurde zunächst für zwei Krankheiten, dem Diabetes mellitus Typ 2 und der COPD definiert. In der Planung und Umsetzung von QualiCCare gelten mehrere ­Credos: Agieren in enger Abstimmung (1), Think Big (2), Implementieren von «best practices» (3) und der Fokus auf Patienten (4). Vor allem die Implementierung von «best practices» hat einen hohen Stellenwert.

Internationale Benchmarks für die COPD-Therapie in der Schweiz

«Die Schweiz kann sich in der Betreuung und Behandlung von COPD-Patienten noch deutlich verbessern, wie der internationale Vergleich zeigt», so Dr. Steurer-Stey vom Institut für Hausarztmedizin der Universität Zürich. Während die Schweiz eine Rate von 56% korrekt gestellter COPD-Diagnosen aufzuweisen hat, so liegt man in Spanien als «Bester der Klasse» mit 89% deutlich besser. Auch an der Effektivität der Rauchstoppberatung kann in der Schweiz im Vergleich zu Kanada noch gearbeitet werden (45 vs. 60% Nicht-Raucher). Im Bereich der Pharmakotherapie führt Dänemark die Bestenliste an. Hier sind 73% aller COPD-Patienten im GOLD I-Stadium ohne inhalierte Kortikosteroide, in der Schweiz liegt man um mehr als 10% darunter.

Die «best practice»-Interventionen lassen einen direkten Effekt auf die Krankheitsbelastung durch COPD und weitere Krankheiten erwarten: «Die korrekte Umsetzung der Massnahmen macht die Behandlung und Betreuung von COPD-Patienten auch kosteneffektiver: Die Vision von QualiCCare Qualität und Nutzen zu implementieren ist wichtig und richtig», so die Einschätzung von Dr. Steurer-Stey. So könnten durch Raucherentwöhnung, medikamentöse Therapie, Grippeimpfung, Selbstmanagement-Unterstützung und pulmonale Rehabilitation in den nächsten zehn Jahren ca. 11 000 Hospitalisierungen verhindert werden, und die Lebensqualität der Betroffenen gesteigert werden.

Am Institut für Hausarztpraxis der Universität Zürich gibt es im Rahmen eines kantonalen Projekts zur Evaluierung der Massnahmen zum einen CAROL (Care in obstructive lung disease), eine grossangelegte prospektive, randomisiert durchgeführte Studie die die Hypothese hat, dass «die Teilnahme an der COPD-Qualitätsintervention die Adherence mit good practice-Standards verbessert»; zum anderen das PILOT-Projekt in Zusammenarbeit mit der GD des Kan­ton Zürichs, eine retrospektive Analyse der Dokumentation von Qualitätsindikatoren der «good practice». Erste Auswertungen und Ergebnisse zeigen, dass sowohl zwischen Spitälern und Grundversorgern (trotzdem sich die beiden Patientenpopulationen nicht grundlegend unterscheiden), als auch zwischen den einzelnen überprüften Indikatoren eine grosse Varianz besteht. Besonders schlecht dokumentiert waren die Anleitung zum Exazerbationsmanagement, ein geschriebener Aktionsplan für Patienten und das Anbieten pulmonaler Rehabilitation. Vergleicht man die dokumentierten Leistungsmessungen im Kanton Zürich mit Kennziffern aus Einrichtungen, in denen das «Living well with COPD»-Programm Anwendung findet, so sind teilweise Verbesserungen von bis zu 90% möglich, Dr. Steurer-Stey sagt zusammenfassend: «Mit gezielten krankheitsspezifischen Interventionen und einer besseren Integration der Versorgung, sowohl horizontal als auch vertikal, können wir sehr viel erreichen. Wichtig ist aber, dass aus der Vergangenheit und aus erhobenen Daten für die Zukunft gelernt wird und die richtigen Massnahmen und Anreize für eine nutzbringende Versorgung auch gesundheitspolitisch mitgetragen werden.»

Quelle: Trendtage Gesundheit, 27. März 2014, Luzern.

HAUSARZT PRAXIS 2014; 9(4): 33–34

Autoren
  • Lena Geltenbort 
Publikation
  • HAUSARZT PRAXIS 

Bei der COPD scheinen zwei Annahmen in Stein gemeisselt: Die Erkrankung muss in der spirometrischen Untersuchung mit einem Verhältnis der Einsekundenkapazität FEV1 zur forcierten Vitalkapazität FVC von unter 70% definiert sein (FEV1/FVC <70) und betroffen sind ältere Männer, die Zigaretten rauchen. Dass das nicht die ganze Wahrheit ist, ist noch immer nicht zu allen durchgedrungen. Anlass für eine Forschungsgruppe, neue Definitionskriterien zu formulieren.

Die Lancet-Kommission um Prof. Dr. Daiana Stolz von der Klinik für Pneumologie am Universitätsklinikum Freiburg (D) und Klinik für Pneumologie am Universitätsspital Basel stellt die teilweise Jahrzehnte alten Konzepte der Diagnose und Therapie der chronisch obstruktiven Lungenerkrankung (COPD) infrage [1]. Die Wissenschaftler formulieren drei Eckpunkte, die bei der Herangehensweise an COPD künftig helfen sollen:

  • Neue Diagnosekriterien für COPD, die über die Spirometrie hinausgehen
  • Eine neue Klassifizierung der COPD-Subtypen 1–5, die über das Zigarettenrauchen hinausgeht
  • Eine neue Definition der Exazerbation, die über die Notwendigkeit einer medikamentösen Therapie hinausgeht

COPD ist eine heterogene Erkrankung, die zahlreiche systemische Konsequenzen und Komorbiditäten zur Folge hat, welche sich von Patient zu Patient unterschiedlich entwickeln können. «Deshalb denken wir, dass die diagnostischen Kriterien, die wir heute anwenden, schlicht nicht gut genug sind», erklärte die Pneumologin. Grund für diese Einschätzung sei v.a., dass sich die Kriterien seit Jahrzehnten nicht verändert haben und in erster Linie auf der Spirometrie nach Bronchodilatation beruhen. Diese sei jedoch zu begrenzt, um die Vielfalt der Pathophysiologie der Krankheit widerzuspiegeln. Es ist bekannt, dass die Spirometrie für pathologische Veränderungen in einem frühen Stadium der COPD nicht sensitiv ist, insgesamt zu wenig genutzt bzw. oft falsch interpretiert wird und darüber hinaus nicht prädiktiv für Symptome ist.

Das Ziel sei es, den Zeitpunkt der Diagnose vom durchschnittlichen Rentenalter auf ein Alter Mitte 30 zu verlegen, um frühe Atemwegsveränderungen und emphysematöse Zerstörungen des Lungenparenchyms aufzuhalten und nachfolgendes Organversagen zu verhindern. Momentan würde eine COPD diagnostiziert, wenn die Organschäden bereits irreversibel sind, so Prof. Stolz.

Sie plädiert daher für eine breitere Definition, um auch Einschränkungen des Airflows berücksichtigen zu können, die die durch empfindlichere Lungenfunktionstests festgestellt werden, sowie pathologische Veränderungen, welche durch bildgebende Verfahren festgestellt werden. Die Forscher gehen davon aus, dass man durch eine frühere Erkennung der Krankheit die Möglichkeiten einer effektiven Therapie erhöhen, die für die Krankheit verantwortlichen Mechanismen identifizieren und so den Krankheitsverlauf unterbrechen und umkehren kann.

Neue Diagnosekriterien

Für eine zukünftige Diagnosestellung stellt die Gruppe drei Kriterien vor, um eine COPD-Erkrankung zu definieren:

  1. Vorhandensein von respiratorischen Sympto­men
  2. Persönliche Anamnese bzgl. Risikofaktoren
  3. Vorhandensein einer persistenten Limitation des Airflows oder der ventilatorischen Heterogenität, die durch Spirometrie oder andere Lungenfunktionstests, Histologie oder CT festgestellt wird

In der klinischen Anwendung sollte zunächst eine Beurteilung der Symptome und Risikofaktoren erfolgen und – sofern verfügbar – ein Lungenfunktionstest durchgeführt werden. Liegt eine Obstruktion im Sinne von FEV1/FVC <70 vor, kann die Diagnose COPD gestellt werden, andernfalls bieten sich alternative Tests an: Bei Veränderungen der Diffusionskapazität, des Widerstands, des nitrogen washout, der Pathologie (Airway Remodeling) und der forcierten Oszillationstechnik (FOT) kann ebenfalls eine COPD diagnostiziert werden.

Liegt kein Lungenfunktionstest vor, kann eine CT als Diagnosemethode in Betracht gezogen werden: Im Falle von Emphysem, Airtrapping oder Anomalien der Atemwege ist die COPD-Diagnose ebenfalls möglich (Abb. 1). Wenn kein CT verfügbar ist und man nur die Symptome hat, empfiehlt Prof. Stolz, sich an den Werten CAT ≥10, mMrc ≥2 sowie ≥1 Exazerbation/Jahr zu orientieren. «Wenn diese zusammen mit den entsprechenden Symptomen auftreten, können Sie von einer wahrscheinlichen COPD ausgehen.»

Klassifizierung in Subtypen

Früher galt die COPD als eine Erkrankung von Rauchern, mittlerweile wird anerkannt, dass mehrere andere Faktoren für die Pathologie von Bedeutung sind. Je nach den Risikofaktoren, die mit der Entwicklung der Krankheit bei einem Patienten verbunden sind, kann ein entsprechender Subtyp zugeordnet werden.

Diejenigen Patienten, die nicht rauchen, sind in der Regel jünger und haben eine bessere Lungenfunktion als jene, die ihre COPD aufgrund ihres Zigarettenkonsums entwickeln. Auch zeigen nicht alle eine beschleunigte Abnahme der Lungenfunktion mit dem Alter, und etwa 50% der Patienten mit COPD haben eine normale Abnahme der Lungenfunktion – erreichen im frühen Erwachsenenalter aber nie den erwarteten gesunden Peak ihrer Lungenfunktion.

Je nach der individuellen Pathophysiologie der Betroffenen können unterschiedliche Prognosemethoden und therapeutische Überlegungen angewandt werden. Infolgedessen schlägt die Kommission vor, die Krankheit als eine mit mehreren potenziellen Verläufen im Laufe der Zeit zu betrachten, die durch individuelle Risikofaktoren entstehen und im Laufe des Lebens akkumulieren können, wobei verschiedene Risikofaktoren eine grössere oder geringere Bedeutung haben. So ist z.B. die Exposition in Innenräumen und am Arbeitsplatz von grösserer Bedeutung als die Exposition aussen. Diagnose und Behandlungsmöglichkeiten müssen dementsprechend angepasst in Betracht gezogen werden.

Auf der Grundlage des jeweils vorherrschenden Risikofaktors, der die Krankheit antreibt, schlagen die Wissenschaftler eine Klassifizierung in 5 Subtypen vor [2]:

  • Typ 1 – genetisch bedingte COPD (z.B. α1-Antitrypsin-Mangel)
  • Typ 2 – frühe Lebensereignisse (z.B. Asthma im Kindesalter)
  • Typ 3 – respiratorische Infektionen (z.B. Atemwegsinfektionen im Kindesalter, Tbc- oder HIV-assoziierte COPD)
  • Typ 4 – Exposition im Zusammenhang mit Rauchen oder Vaping (z.B. Tabak, Cannabis, Passivrauchen, auch In-utero-Exposition)
  • Typ 5 – durch Umwelteinflüsse bedingt (z.B. Luftschadstoffe in Innenräumen, berufsbedingte Exposition durch Dämpfe, Gase, Stäube etc., Smog)

Natürlich können Patienten von mehr als einem Subtyp betroffen sein; es wird vorgeschlagen, die Diagnose mit der wichtigsten Exposition in Verbindung zu bringen. Es müssten mehr Daten analysiert werden, um genau festzustellen, wie sich die Subtypen zu den Endotypen und wie sich diese wiederum zu den Phänotypen verhalten. Die sich daraus ergebenden Erkenntnisse werden Aufschluss darüber geben, welche Art von Therapie für die verschiedenen Subtypen infrage kommt.

Exazerbationen

Die derzeitige Definition der Exazerbation betrachten die Wissenschaftler als problematisch, da sie nicht den zugrunde liegenden Prozess des Ereignisses berücksichtigt, ebenso wie die Subtypen oder die Verwendung von Biomarkern zur Kategorisierung. Sie kann auch zu Fehldiagnosen führen und den Fortschritt in diesem Bereich behindern.

Prof. Stolz Vorschlag für eine effektivere Definition lautet daher: Eine Exazerbation sollte definiert werden als eine Zunahme von Husten, Dyspnoe oder Sputumproduktion plus mindestens eine der folgenden Erscheinungen: Zunahme der Airflow-Limitation oder Ventilations-Heterogenität, Zunahme der Atemwegs- oder systemischen Entzündung, Evidenz einer bakteriellen oder viralen Infektion – immer bei Fehlen einer akuten kardialen Ischämie, kongestiver Herzinsuffizienz oder Lungenembolie.

Eine solche objektive Definition könne dazu beitragen, eine standardisierte Beurteilung und die patientenspezifische Behandlung zu verbessern. Dieser Ansatz geht einher mit Standarduntersuchungen, die immer dann anhand einer Liste wesentlicher Risikofaktoren durchzuführen sind, wenn ein Patient mit einer Zunahme der respiratorischen COPD-Symptome vorstellig wird.

Zudem schlägt die Kommission vor, den Schweregrad der Exazerbation anhand von bestimmten Kriterien zu objektivieren, basierend auf dem Grad der klinischen, biologischen und physiologischen Verschlechterung. Das Vorliegen eines dieser Kriterien (z.B. klinisch signifikante Hypoxämie, reduzierte Aufmerksamkeit, kardiale Probleme) reiche aus, um eine Exazerbation als schwerwiegend zu definieren. Auf der Grundlage der Gesamtzahl der erfüllten Kriterien könne dann eine Gesamtbewertung des Schweregrads berechnet werden. Die Definitionen für leichte oder mittelschwere Exazerbationen seien dagegen nicht mehr nötig, so die Expertin abschliessend.

Quelle: Symposium: Towards elimination of COPD – Innovative views from the Lancet Commission on COPD; Vortrag: Revisiting the diagnosis and classification of COPD. Kongress der European Respiratory Society, Barcelona, 6.09.2022.

Literatur:

  1. Stolz D, Mkorombindo T, Schumann DM, et al.: towards the elimination of chronic obstructive pulmonary disease: a Lancet Commission. Lancet 2022; 400 (10356): 921-972; doi: 10.1016/S0140-6736(22)01273-9.
  2. Brusselle GG, Humbert M: Classification of COPD: fostering prevention and precision medicine in the Lancet Commission on COPD. Lancet 2022; 400 (10356): 869–871; doi: 10.1016/S0140-6736(22)01660-9.

InFo PNEUMOLOGIE & ALLERGOLOGIE 2022; 4(4): 38–39

Autoren
  • Iain Campbell 
Publikation
  • INFO PNEUMOLOGIE & ALLERGOLOGIE 

In einem im Fachjournal Pulmonary Therapy erschienenen Review werden wichtige Neuerungen der 2023 herausgegebenen Empfehlungen der Global Initiative for Chronic Obstructive Lung Disease (GOLD) bezüglich Inhalationstherapie bei Patienten mit stabiler chronisch-obstruktiver Lungenerkrankung (COPD) zusammengefasst und eingeordnet. 

Zu den Zielen, die mit einer medikamentösen Therapie erreicht werden können, zählen Verringerung von Exazerbationen, Mortalitätsreduktion, sowie eine Steigerung der Lebensqualität, indem Beschwerden gelindert und die körperliche Leistungsfähigkeit verbessert werden. [1]. Seit 2020 wird in den jährlich aufdatierten GOLD-Empfehlungen darauf hingewiesen, dass nicht nur Rauchstopp, Langzeit-Sauerstofftherapie und bronchoskopische Lungenvolumenreduktion erwiesenermassen zu einer Mortalitätsreduktion beitragen, sondern auch Dreifachkombinationen aus langwirksamen Anticholinergika (LAMA), langwirksamen Beta-Agonisten (LABA) und inhalativen Steroiden (ICS) im Vergleich zur LAMA-Monotherapie oder den Zweifachkombinationen aus LABA/LAMA bzw. LABA/ICS einen Überlebensvorteil bieten, wie in klinischen Studien gezeigt werden konnte [2–5]. Die richtige Inhalationstechnik ist entscheidend für die Wirksamkeit der inhalativen Pharmakotherapie – die entsprechenden Abschnitte zu Inhalations-Devices und den Anforderungen an Patienten und Behandler wurden in den GOLD-Empfehlungen 2023 ebenfalls überarbeitet [5,6]. Der von der Schweizerischen Lungenliga herausgegebene Pocket Guide für Fachpersonen enthält eine Zusammenfassung der gesamten GOLD-Empfehlungen 2023 [8]. 

Inhalative Pharmakotherapie: Was sind die wichtigsten Änderungen? 

Die Gruppen C und D gemäss GOLD-Report 2022 wurden im GOLD-Report 2023 in die Gruppe E integriert (Tab. 1). In den aktuellen GOLD-Empfehlungen wird dazu geraten, dass Patienten der Gruppe E initial eine Zweifachkombination aus LABA/LAMA einsetzen und eine Dreifachkombination in Betracht gezogen wird bei Eosinophilenzahl (EOS) ≥ 300/µL [5]. Diese Empfehlung weicht ab von derjenigen des 2022 erschienen GOLD-Reports, in welchem eine LABA/LAMA-Kombination lediglich bei schweren Symptomen (z.B. CAT ≥20) oder bei Eosinophilenspiegel ≥300/µL bei Patienten in der Gruppe D befürwortet wurde; die Dreifachtherapie wurde für keine der Gruppen als Option der Initialbehandlung genannt [7]. Eine Monotherapie wird im GOLD-Report 2023 lediglich für Patienten der Gruppe A empfohlen. Auch die früher geltende Empfehlung bei Patienten in der Gruppe D mit EOS ≥300/µL eine LABA/ICS-Kombination zu verwenden, hat sich geändert. Die entsprechenden Änderungen sind in Tabelle 2 ersichtlich.

Korrekte Inhalationstechnik: Patienten­edukation ist zentral 

Seit 2017 wird in den GOLD-Reports explizit darauf hingewiesen, dass die Wahl des Inhalations-Devices auf die Fähigkeiten, Ziele und Präferenzen des Patienten abgestimmt werden sollte. Ausserdem wurde und wird die Wichtigkeit von Patientenedukation für eine korrekte Inhalationstechnik betont. Behandler sollen routinemässig kontrollieren, ob die Patienten ihr Inhalations-Device korrekt verwenden. Zu den Aktualisierungen im 2023 erschienenen GOLD-Report zählen unter anderem ein stärkerer Fokus auf die patientenseitigen Voraussetzungen hinsichtlich Inhalations-Device [5]. Es wird darauf hingewiesen, dass Kraft und Geschicklichkeit erforderlich sind, um Inhalationsgeräte mit Druckdosierung (pMDIs) zu bedienen, Trockenpulverinhalatoren (DPIs) zu laden und atemzugbetätigte Inhalatoren (BAIs) zu starten. Tremor kann zum Schütteln des Geräts und zum Verlust der Dosis führen. Während frühere GOLD-Berichte das Alter als Risikofaktor für die suboptimale Anwendung von Inhalatoren nennen, werden im Bericht 2023 kognitive Beeinträchtigungen oder verminderte manuelle Geschicklichkeit als zu berücksichtigende Faktoren genannt [5]. Gemäss GOLD-Empfehlungen 2023 sollten Patienten und Ärzte insbesondere die folgenden Punkte beachten:

  • Grösse und Handlichkeit des Devices
  • Anzahl erforderlicher Schritte, um das Gerät einsatzbereit zu machen 
  • die für das Laden oder Aktivieren des Gerätes erforderliche Kraft 
  • die für einen effektiven Gebrauch erforderlichen Inhalations-Manöver 
  • Zeit, welches ein Gerät für die Medikamentenverabreichung benötigt 
  • inspiratorischer Flow, Beschleunigung des Atemflusses und das Inhalationsvolumen
  • erforderliche Zeit und Anstrengung, um das Gerät zu reinigen und instandzuhalten 
  • die möglichen Benefits von Inhalationsgeräten, die «smarte» Technologien beinhalten, z.B. Sensoren, welche Probleme in Echtzeit identifizieren und objektive Daten zur Adhärenz und Inhalationstechnik bieten. 

Komorbiditäten wie Arthritis, Osteoporose, Parkinson, neuro-kognitive Beeinträchtigungen, neuromuskuläre Schwäche, Herzerkrankungen und Adipositas können die Fähigkeit für einen effektiven Einsatz von Inhalationsgeräten beeinträchtigen, insbesondere wenn diese Komorbiditäten bereits in weit fortgeschrittenen Stadien sind. Es sollte abgeklärt werden, ob eine Betreuungsperson involviert ist und in welchem Ausmass diese über Training und Fähigkeiten verfügt, um den Patienten in der korrekten Inhalationstechnik zu unterstützen. Im aktuellem GOLD-Report wird das «Shared-decision-making»-Prinzip propagiert, das heisst, dass der Patient in die Wahl des Inhalationsgerätes miteinbezogen werden soll. 

Literatur:

  1. Steurer-Stey C: Guideline COPD; zuletzt revidiert: 08/2023, www.medix.ch, (letzter Abruf 07.02.2024) 
  2. GOLD: Global strategy for the diagnosis, management, and prevention of chronic obstructive lung disease (2020 Report).
  3. Lipson DA, et al.: Once-daily single-inhaler triple versus dual therapy in patients with COPD. NEJM 2018;378: 1671–1680.
  4. Vestbo J, et al.: Inhaled corticosteroid containing combinations and mortality in COPD. Eur Respir J 2018; 52: 1801230.
  5. GOLD: Global strategy for the diagnosis, management, and prevention of chronic obstructive lung disease (2023 Report). https://goldcopd.org 2023-gold-report-2, (letzter Abruf 07.02.2024) 
  6. Terry PD, Dhand R: The 2023 GOLD Report: Updated Guidelines for Inhaled Pharmacological Therapy in Patients with Stable COPD. Pulm Ther 2023; 9: 345–357. 
  7. GOLD: Global strategy for the diagnosis, management, and prevention of chronic obstructive lung disease (2022 Report).
  8. «COPD Pocket Guide», Diagnostik und Managementsupport für Fachpersonen. Hrsg.: Schweizerische Gesellschaft für Pneumologie und Lungenliga, August 2023. Autorinnen: Prof. Dr. med. Claudia Steurer-Stey, Kaba Dalla Lana dipl. Physiotherapeutin FH, PRT.

HAUSARZT PRAXIS 2024; 19(1): 18–20

Publikation
  • HAUSARZT PRAXIS

Reizmagen- und Reizdarmsyndrom sind benigne Erkrankungen, können aber die Lebensqualität der Betroffenen stark einschränken. Funktionelle Blähungen sind ein häufiges gemeinsames Charakteristikum und wird von Betroffenen als sehr störend empfunden. Eine einheitliche Standardtherapie gibt es nicht, als wirksam erwiesen hat sich eine multimodale, symptomorientierte Therapie.

Funktionelle gastrointestinale Störungen sind häufig und können anhand der Rom IV-Kriterien diagnostiziert werden, wenn es keine Hinweise gibt auf eine andere strukturelle Erkrankung [1]. Die Ursachen sind oft diffus, manchmal spielen ungünstige Ernährungsgewohnheiten und Stress eine Rolle. Motilitätsstörungen und viszerale Hypersensitivität sind entscheidende Faktoren im Pathomechanismus. Typische Symptome funktioneller Magen-Darm-Beschwerden sind Blähungen, Bauchschmerzen oder Krämpfe, Völlegefühl, Durchfall oder Verstopfung.

Symptome auch bei normaler Gasbildung

Bei Blähungen handelt es sich um die subjektive Empfindung eines geblähten Abdomens, die von Betroffenen als sehr störend empfunden wird.  Es handelt sich um ein gemeinsames Symptom verschiedener funktioneller Erkrankungen des Gastrointestinaltraktes (Abb. 1) [2–5]. Manchmal liegt eine objektiv feststellbare Zunahme des Bauchumfanges vor, was aber nicht zwingend ist. Schweregrad und Verlauf sind individuell unterschiedlich. Während bei einigen die Symptome spontan remittieren, persisitieren diese bei anderen chronisch und führen zu erheblicher Beeinträchtigung [6]. Der Pathomechanismus ist multifaktoriell, es wird davon ausgegangen, dass viszerale Hypersensitivität, verhaltensinduziert abnorme Reflexe, sowie Effekte von schlecht absorbierten fermentierbaren Kohlenhydraten und Alterationen des Mikrobioms (z.B. durch eine Infektion) eine Rolle spielen [7]. Das moderne Konzept der Darm-Hirn-Achse («Brain-Gut-Axis») bezieht sich auf den Zusammenhang zwischen dem peripheren und dem zentralen Nervensystem [8]. In diesem Erklärungsmodell wird davon ausgagangen, dass viszerale Allodynie zur subjektiven Wahrnehmung von Blähungen führt und diese auch bei normaler oder nur geringfügig erhöhter Gasbildung auftreten kann [9,10]. Der Mechanismus der viszeralen Hypersensitivität, also einer erhöhten Vigilanz gegenüber spezifischen Sensationen im Magen-Darm-Trakt, wird bereits seit Längerem als wichtiger pathogenetischer Faktor für Blähungen und andere funktionelle Verdauungsbeschwerden beschrieben [5,7,11]. Eine tiefere Perzeptions- und Schmerzschwelle auf intestinale Reize trägt zu einer zentralnervösen Sensibilisierung bei.  

 

 

Kümmelöl: karminative Eigenschaften

Die Therapie stellt für Behandler und Patienten eine Herausforderung dar. Es gibt keine einheitliche Strategie zur Behandlung funktioneller Blähungen, ein multimodales symptomorientiertes Prozedere ist am erfolgversprechendsten. Hinsichtlich Ernährung hat sich in kontrollierten empirischen Studien gezeigt, dass eine FODMAP-arme Diät eine Reduktion gastrointestinaler Symptome begünstigt [12]. FODMAPs sind fermentierbare Kohlenhydrate, deren Absorption bei gewissen Personen problematisch ist. Neben Ernährungsumstellung kann auch eine Verhaltenstherapie sinnvoll sein, zum Beispiel für Strategien zur Stressbewältigung. Man weiss, dass Stress die qualitative und quantitative Zusammensetzung des «Mikrobioms» beeinflussen kann [13]. Neben den Allgmeinmassnahmen hat sich Phytotherapie ebenfalls als  wirksam erwiesen. Gemäss einer 2020 erschienenen Publikation von Lacy et al. wird der Erfolg einer Behandlung durch folgende Faktoren besonders gefördert [14]: Psychoedukation, Unterstützung für eine Lebensstilmodifikation, Ernährungsberatung. Phytotherapeutisch können karminative Substanzen, wie beispielsweise Kümmel, Linderung verschaffen. Die Wirkung pflanzlicher Karminativa beruht auf einer Entspannung der Darmmuskulatur und einer Hemmung der Gas- und Schaumbildung. Kümmelöl (Carvi aetheroleum) hat zudem antimikrobielle Effekte, was zu einer verringerten Gasbildung durch Mikroorganismen beiträgt [15]. Dabei wird selektiv das Wachstum pathogener Keime inhibiert, ohne negative Effekte auf nützliche Darmbakterien auszuüben [15]. Kümmelöl wirkt zudem auch schmerzlindernd durch Reduktion der viszeralen Sensitivität (TRPA1-Rezeptor). Auch Pfefferminzöl hat analgetische Effekte (TRPM8-Rezeptor) sowie eine relaxierende Wirkung über die Hemmung von spannungsabhängigem Kalziumeinstrom [16]. Die in dem kapselförmigen Arzneimittel Carmenthin® [17] enthaltene hochdosierte Wirkstoffkombination aus Pfefferminzöl und Kümmelöl lindert nachweislich funktionelle Verdauungsstörungen wie Blähungen, Krämpfe, Völlegefühl und epigastrische Schmerzen.

Literatur:

  1. Stanghellini V, et al.: Gastroenterology 2016 pii: S0016–5085(16)00177–3
  2. May B, et al.: Efficacy and tolerability of a fixed combination of peppermint oil and caraway oil in patients suffering from functional dyspepsia. Aliment Pharmacol Thera 2000; 14: 1671–1677.
  3. Noe S, et al.: Eine offene, multizentrische, apothekenbasierte, prospektive Kohortenstudie mit Menthacarin bei funktionellen gastrointestinalen Beschwerden. Internist 2016; 57 (Suppl. 1), S42–S42
  4. Storr M, Stracke B: Behandlungseffekt und Verträglichkeit von Menthacarin bei Patienten mit funktioneller Dyspepsie – ein 11-monatiges Follow-up. Z Gastroenterol 2017; 55: e220–e220.
  5. Madisch A, et al.: Diagnose und Therapie der funktionellen Dyspepsie. Dtsch Arztebl Int 2018; 115: 222–232.
  6. Kamboj AK, Oxentenko AS: Workup and Management of Bloating. Clin Gastroenterol Hepatol 2018; 16(7): 1030–1033.
  7. Mari A, et al.: Bloating and Abdominal Distension: Clinical Approach and Management. Adv Ther 2019; 36(5): 1075–1084.
  8. Matricon J, et al.: Associations Between Immune Activation, Intestinal Permeability and the Irritable Bowel Syndrome. Aliment Pharmacol Ther 2012; 36(11–12): 1009–1031.
  9. Malagelada J, et al.: Bloating and abdominal distension: old misconceptions and current knowledge. Am J Gastroenterol. 2017; 112(8): 1221–31.
  10. Hellström PM: Pathophysiology of the Irritable Bowel Syndrome – Reflections of Today. Best Pract Res Clin Gastroenterol 2019; 40–41:101620.
  11. Serra J, et al.: Modulation of gut perception in humans by spatial summation pheno-mena. J Physiol 1998; 506(2): 579–587.
  12. Halmos EP, et al.: A Diet Low in FODMAPs Reduces Symptoms of Irritable Bowel Syndrome. Gastroente-rology 2014; 146(1): 67–75.e5
  13. Cuntz U: Grundkonzepte der gastrointestinalen Psychophysiologie. Verhaltenstherapie 2014; 24: 100–106.
  14. Lacy BE, et al.: Management of Chronic Abdominal Distension and Bloating. Clinical Gastroenterology and Hepatology, April 01, 2020, DOI:https://doi.org/10.1016/j.cgh.2020.03.056
  15. Hawrelak JA, et al.: Essential oils in the treatment of intestinal dysbiosis: A preliminary in vitro study. Altern Med Rev 2009; 14(4): 380–384.
  16. Deutsche Apothekerzeitung (DAZ): DAZ 2018 (9): 73, 01.03.2018.
  17. Carmenthin: www.compendium.ch

HAUSARZT PRAXIS 2020; 15(7): 44

Autoren
  • Mirjam Peter, M.Sc. 
Publikation
  • HAUSARZT PRAXIS 

Am DGIM-Kongress wurden die verschiedenen Therapieoptionen des Reizdarmsyndroms diskutiert. Scheinbar favorisieren deutsche Hausärzte in der Behandlung vor allem Probiotika, Spasmolytika und Phytotherapeutika. Welche weiteren Massnahmen stehen zur Verfügung?

Nach derzeitigem Verständnis führt beim Reizdarmsyndrom eine Störung der Darm-Hirn-Achse zu einer gesteigerten viszeralen Schmerzwahrnehmung und Darmmotilität. Eine Veränderung des Mikrobioms scheint eine ursächliche Rolle zu spielen. Ein Reizdarmsyndrom geht typischerweise mit Blähungen, Durchfall oder Obstipation und Bauchschmerzen einher. Depressive Verstimmungen begleiten oft die Symp­to­matik.

Gemäss einer am Kongress als Poster vorgestellten Umfrage präferieren deutsche Hausärzte eine Behandlung mit Probiotika, Spasmolytika und Phytotherapeutika. Die Grundversorger hielten damit die drei Wirkstoffklassen für am wirksamsten, für die es in Studien die schwächste Evidenz gibt, so Prof. Dr. med. Stefan Müller-Lissner, Park-Klinik Weissensee, Berlin. Die Unschärfen in der Diagnostik des Reizdarmsyndroms (32 verschiedene Krankheiten) und in dessen medikamentöser Differenzialtherapie (Abb. 1) erleichtern das Management betroffener Patienten nicht. Das Reizdarmsyndrom hat keine einheitliche Pathophysiologie, was bereits die Einteilung in die Subtypen Reizdarmsyndrom vom Diarrhoe-dominanten und Obstipations-dominanten Typ bzw. mit alternierendem Stuhlverhalten suggeriert.

Das Reizdarmsyndrom sei jedoch mit definierten peripheren und systemischen Störungen assoziiert, sagte Prof. Dr. Michael Schemann, Technische Universität München, an der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM). Man wisse um die gestörten Signalwege im Gehirn, das bedeute aber nicht, dass sich die Erkrankung nur im ZNS abspiele. Beispiele für organische (messbare) Korrelate beim Reizdarmsyndrom sind Motilitätsstörungen des Darms oder das Gallensäureverlustsyndrom. Mithilfe von Biomarkern gelingt es heute, RDS-Subtypen zu identifizieren und gezielter zu behandeln. Als Biomarker einer behandelbaren Pathologie sind derzeit der 48h-Kolontransit (Motilitätsstörung) und Proteasen im Schleimhautüberstand (periphere sensorimotorische Störungen) messbar. Die Analyse von Stuhlproben oder die Messung von Immunmediatoren kommen als weitere Biomarker-Kandidaten infrage. Routinemässig werden diese Marker jedoch nicht eingesetzt.

Therapie: Medikamente, Diät und Probiotika

Bedingung für das Auftreten von Reizdarmbeschwerden ist die affektive Bewertung der Symptome durch den Patienten. «Es braucht ein peripheres Signal als initialen Trigger», sagte Prof. Müller-Lissner. Als Trigger kommen (abnorme) Motilität, bestimmte Nahrungsbestandteile, Bakterien oder Gasbildung infrage. Anhand dieser Trigger lassen sich auch die unterschiedlichen Therapieansätze klassifizieren: Diät, Probiotika und medikamentöse Therapien. Insgesamt gebe es keine durchschlagende Therapie; in der Schmerzmodulation bringen trizyklische Antidepressiva oder SSRI Linderung, mit dem Nachteil, dass sie langfristig (statt «on-demand» wie andere Therapeutika) eingenommen werden müssen, so der Experte.

Diät: Ballaststoffe und FODMAP

Die Empfehlung, eine faserreiche Ernährung zu favorisieren, etwa mit Weizenkleie und Flohsamenschalen, konnte bisher in Untersuchungen nur einen grenzwertigen Benefit zeigen, so Prof. Müller-Lissner. Als besser wirksam hat sich in den letzten Jahren die sog. FODMAP-Diät herauskristallisiert, also eine Diät, die bestimmte Obst- und Gemüsesorten meidet. Das Akronym steht für «Fructane, Oligosaccharide, Disaccharide, Monosaccharide (and) Polyole». Solche Kohlenhydrate und Zuckeralkohole sind in vielen Nahrungsmitteln enthalten und werden bei Gesunden fast komplett im Dünndarm abgebaut und resorbiert. Bei Reizdarmpatienten kann es passieren, dass diese nicht vollständig aufgespalten werden und in den Dickdarm gelangen. Sie verstärken den Einstrom von Wasser in den Darm und werden, sobald sie das Kolon erreichen, von Darmbakterien fermentiert. Dabei kommt es zur Gasbildung. Die Folge können unangenehme Blähungen, Durchfall oder unklare Bauchschmerzen sein. FODMAP-Quellen sind unter anderem Brokkoli, Blumenkohl, Erbsen, Kartoffeln, Lauch und Zwiebeln sowie Äpfel, Aprikosen, Kirschen, Birnen, Pflaumen und Trockenfrüchte.

Abnorme Motilität: Spasmolytika, Pfefferminzöl und Laxanzien

Eine abnorme Motilität im Gastrointestinaltrakt kann sich in Bauchschmerz manifestieren. Als altes, aber weniger bekanntes Spasmolytikum kann Pfefferminzöl bei Reizdarmpatienten mit guter Wirksamkeit zum Einsatz kommen. Das liegt an der hohen Bioverfügbarkeit des Pfefferminzöls. Das anticholinergisch wirkende Hyoscin (Buscopan®) ist zur Behandlung krampfartiger Bauchschmerzen beim Reizdarm­syndrom etwa gleich wirksam. Für Mebeverin hingegen haben Metaanalysen keine signifikante Wirkung nachgewiesen.

Gegen Obstipation und Völlegefühl kommen Laxanzien infrage. Für den zur Behandlung des Reizdarms mit Obstipation eingesetzten Guanylatcyclase-C-Rezeptoragonisten Linaclotid konnte zusätzlich ein analgetischer Effekt bei hypersensitiven Mäusen gezeigt werden.

Mikrobiommodulation: Probiotika und Antibiotika

Bei der Spaltung von Ballaststoffen durch Mikrobiota kommt es zu Gasbildung; umgekehrt wurden bei Pa­tien­ten mit Meteorismus Auffälligkeiten in der bakteriellen Besiedlung des Darms gefunden. Dennoch haben sich Probiotika als wenig wirksam gegen Blähungsgefühl und Bauchschmerzen erwiesen. Das nicht-resorbierbare Antibiotikum Rifaximin hat sich in Bezug auf Besserung von Meteorismus im Vergleich zu Placebo als überlegen herauskristallisiert.

Diarrhoe: Loperamid und neue Substanzen (Tab. 1)

Neben altbekannten Antidiarrhoika bieten sich Gallensäurebinder in der Behandlung des Reizdarms an. Gallensäuren stimulieren nämlich im Kolon Motilität und Sekretion, wodurch eine kürzere Transitzeit resultiert und Diarrhoe begünstigt wird. Die Therapie mit einem Gallensäurebinder wie Colestyramin oder Colesevelam kann die Kolonentleerung bei Patienten mit Reizdarmsyndrom vom Diarrhoetyp verzögern.

Allgemeine Reizdarmsymptome: Iberis amara

Für den Kräutercocktail Iberogast®, bestehend aus der Bitteren Schleifenblume (Iberis amara) und den weiteren acht Kombinationspartnern Kamille, Kümmel, Melisse, Pfefferminze, Schöllkraut, Süssholz, Angelica und Mariendistel, gibt es eine Originalstudie, die eine Besserung des Parameters Schmerz sowie der Globalsymptomatik zeigt. Wirkmechanismus ist unter anderem eine Beeinflussung der peripheren Schwelle mukosaler Reize. Das Präparat ist in der Indikation «Reizdarm» zugelassen.

Quelle: Kongress der DGIM, 14.–17. April 2018, Mannheim

Weiterführende Literatur:

  • Enck P, et al.: Irritable bowel syndrome – dissection of a disease. A 13-steps polemic. Z Gastroenterol 2017 Jul; 55(7): 679–684.
  • Ford AC, et al.: American College of Gastroenterology monograph on the management of irritable bowel syndrome and chronic idiopathic constipation. Am J Gastroenterol 2014 Aug; 109(Suppl 1): S2–26.
  • Wong BS, et al.: Increased Bile Acid Biosynthesis Is Asso­ciated With Irritable Bowel Syndrome With Diarrhea. Clin
  • Gastroenterol Hepatol 2012; 10: 1009–1015.
  • Madisch A, et al.: Treatment of irritable bowel syndrome with herbal preparations: results of a double-blind, randomized, placebo-controlled, multi-centre trial. Aliment Pharmacol Ther 2004 Feb 1; 19(3): 271–279.

HAUSARZT PRAXIS 2018; 13(5): 43–44

Autoren
  • Dr. med. Anka Stegmeier-Petroianu 
Publikation
  • HAUSARZT PRAXIS 

Das Reizdarmsyndrom (RDS) und andere funktionelle Störungen gehören zu den häufigsten chronischen Beschwerden bei Kindern und Jugendlichen. Eine gesicherte Diagnose erlaubt das Einleiten der erforderlichen Therapie. Gemäss der im vergangenen Jahr aktualisierten Leitlinie sollen hierzu die Rom-Kriterien verwendet werden.

Funktionelle Bauchschmerzen können mit erheblicher Beeinträchtigung der Lebensqualität einhergehen [1]. Daten aus Deutschland berichten bei Kindern von 6–10 Jahren eine Häufigkeit des RDS von 4,9%, Mädchen sind häufiger betroffen als Knaben [2]. Gemäss der 2021 aufdatierten S3-Leitlinie liegt ein RDS vor, wenn alle 3 der folgenden Punkte erfüllt sind [1]:

  • Über >3 Monate anhaltende oder rezidivierende Beschwerden wie Bauchschmerzen oder Blähungen, die in der Regel mit Stuhlgangsveränderungen einhergehen
  • der Patient sucht aufgrund dieser Beschwerden Hilfe und/oder ist in so starker Besorgnis, dass die Lebensqualität dadurch relevant beeinträchtigt wird
  • es liegen keine für andere Krankheitsbilder charakteristischen Veränderungen vor, die wahrscheinlich für diese Symptome verantwortlich sind.

Funktionelle gastrointestinale Beschwerden bei Kindern und Jugendlichen werden gemäss Rom IV als Störungen der Interaktion zwischen dem zentralen Nervensystem und dem Darm verstanden und sind häufig assoziiert mit Angst, Depression, Stress und psychischen Traumata [3,4].

Weshalb die Rom-Kriterien verwendet werden sollten

Die Rom-Kriterien für Kinder und Jugendliche (Übersicht 1) sind darauf angelegt, die Diagnose eines RDS nicht allein anhand der Symptome zu stellen, sondern schrittweise andere organische Pathologien auszuschliessen, um wiederholte Untersuchungen zu vermeiden. Die Leitlinienautoren konstatieren, dass die wesentlichen somatischen Differenzialdiagnosen durch eine einfache und begrenzte diagnostische Abklärungsstrategie ausgeschlossen werden können.

Die wichtigsten Argumente für die Verwendung der Rom-Kriterien im Überblick:

  • Anwendbarkeit und Validität der Rom-Kriterien sind durch mehrere Studien belegt. Danach lassen sich durch Anwendung der Rom-III-Kriterien über 8% der Kinder und Jugendlichen mit chronischen Bauchschmerzen klassifizieren, wobei die Diagnose «Reizdarmsyndrom» in etwa 40–50% der Fälle gestellt werden kann [5,6]. Aufgrund der Veränderungen der Rom IV-Definition ist von einer geringeren Prävalenz der Diagnosen, aber einer unveränderten Verteilung auszugehen [7].
  • Alternative Konsensuskriterien oder evaluierte Kriterien für Kinder und Jugendliche existieren nicht.
  • Bis zu einem Alter von etwa 8–12 Jahren können Lokalisation und Charakter der Beschwerden von den Kindern selbst nicht gut spezifiziert werden. Die Diagnose muss sich daher zum grossen Teil auf Angaben der Eltern stützen. Die Rom-Definition bietet dazu eine gewisse Hilfestellung in Form beobachtbarer Kriterien.
  • Die meisten der wenigen vorliegenden Studien zu Diagnostik und Therapie beruhen auf der Rom-Definition.

 

 

Welche «Red Flags» gilt es zu beachten?

Um andere Erkrankungen mit Bauchschmerzen und Veränderungen des Stuhlganges auszuschliessen, ist eine sorgfältige Anamnese und klinische Untersuchung druchzuführen. Alarmsymptome, die auf eine mögliche organische Pathologie hindeuten, sollten gezielt erfasst werden: Gewichtsabnahme, Abnahme der Wachstumsrate; gastrointestinaler (auch okkulter) Blutverlust; signifikantes Erbrechen; chronische, schwere Diarrhoe; persistierende rechtsseitige Oberbauchschmerzen oder rechtseitige Unterbauchschmerzen; unerklärtes Fieber; positive Familiengeschichte für entzündliche Darmerkrankungen [8]. Auch psychische und soziale Faktoren und andere mögliche Auslöser der Beschwerden wie z.B. Darminfektionen sollten erfasst werden. Folgende Laboruntersuchungen werden empfohlen:

  • BB, CRP und/oder BSG, Lipase, GPT, Gamma-GT, ges IgA, Gewebstransglutaminase-IgA-AK, TSH, Kreatinin, Blutzucker
  • Urinstatus
  • Stuhl auf Giardia-lamblia-Antigen, Dientamoeba fragilis, Würmer
  • Stuhluntersuchungen auf fäkale Inflamma­tionsmarker (Calprotectin oder Laktoferrin)

Neben dem RDS werden nach den Rom-IV-Kriterien funktionelle Bauchschmerzen, funktionelle Dyspepsie, zyklisches Erbrechen und die abdominelle Migräne klinisch definiert [9]. Wobei man von einem Kontinuum der funktionellen Abdominalerkrankungen ausgeht [3,10].

Literatur:

  1. Layer P, et al.: Update S3-Leitlinie Reizdarmsyndrom: Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie. Gemeinsame Leitlinie der DGVS und der DGNM, Juni 2021 – AWMF-Registriernummer: 021/016
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HAUSARZT PRAXIS 2022; 17(6): 22

Autoren
  • Mirjam Peter, M.Sc. 
Publikation
  • HAUSARZT PRAXIS 

Die 25. Auflage der European Stroke Conference fand im ­frühlingshaften Venedig statt. Zahlreiche Forschungsprojekte aus verschiedenen europäischen Ländern wurden präsentiert. Nachfolgend werden einige interessante Studien und innovative Ansätze vorgestellt.

Aus dem Vereinigten Königreich stammt eine Metaanalyse, die sich einer spannenden und relevanten Frage widmet: Wie unterscheiden sich die Prävalenzraten für Schlaganfälle in Ländern mit verschieden hohem Einkommen? Und was sind die Gründe für mögliche Unterschiede?

Stroke ist auch in Schwellenländern ein relevantes Gesundheitsthema

Es sind vor allem Infektionskrankheiten, die in Ländern mit tiefen und mittleren Einkommen die Erkrankungsraten bestimmen, während einkommensstarke westliche Länder mit Diabetes, Übergewicht, Hypertonie, Bewegungsmangel und dadurch eben auch Stroke zu kämpfen haben. Dennoch: Schlaganfälle werden in Ländern mit niedrigeren Einkommen zunehmend zu einem relevanten Gesundheitsthema, vor allem dann, wenn die wirtschaftliche Stärke über die Jahre zunimmt und die Menschen älter werden und sich weniger bewegen. Die medizinische Versorgung hinkt der gesellschaftlichen Entwicklung nicht selten hinterher: Der Verlust durch Disability Adjusted Life Years (DALY) für Stroke liegt in diesen Ländern teils siebenmal höher als in einkommensstarken Staaten.

Für ihre Analyse griffen die Forscher auf Community-basierte Studien von verschiedenen grossen Datenbanken wie MEDLINE, EMBASE, Web of Sciences, SCOPUS etc. zurück, um eine aktuelle Bestandesaufnahme der Prävalenzraten von Stroke-Überlebenden zu erhalten. 101 Studien wurden in die Metaanalyse eingeschlossen. Insgesamt nahm die Schlaganfall-Prävalenz in Ländern mit tiefem oder mittlerem Durchschnittseinkommen kontinuierlich zu – dies über alle geografischen Regionen hinweg, allerdings am stärksten in Lateinamerika und der Karibik (jährliche Zunahme von 17%), gefolgt von Ostasien sowie der Pazifikregion (13,3%) und schliesslich von afrikanischen Sub-Sahara-Staaten (12%). Die einkommensschwächsten Länder erlebten mit 14,3% die stärkste Zunahme der jährlichen Prävalenzrate, während die Prävalenz in Staaten mit tiefem bis mittleren Einkommen etwas schwächer anstieg (6%).

Die Autoren konstatierten, dass einkommensstärkere Länder zwar weiterhin für den grössten Teil der Stroke-Prävalenz verantwortlich sind. Regionen mit tiefem Einkommen verzeichneten über die letzten 30 Jahre aber die steilste Zunahme, und sie werden die anderen Staaten in Zukunft wahrscheinlich sogar überholen – mit grossen sozioökonomischen Konsequenzen. Gründe für den Trend sehen die Forscher vor allem in der schlechteren Kontrolle der Risikofaktoren (z.B. unentdeckte bzw. unkontrollierte Hypertonie). Wenn sich der Stroke dann ereigne, sei zudem die Versorgung der Patienten in einkommensschwächeren Ländern schlechter, was wiederum zu einer erhöhten Morbidität führe.

Langzeit-Follow-up: Spastizität nach Stroke

Spastizität nach Stroke, definiert als verschiedene Formen von Muskel-Hyperaktivität, ist eine Komplikation, die für den Patienten und sein Umfeld höchst belastend und einschränkend sein kann. Zwei deutsche Forscher einer neurologischen Klinik in Hamburg präsentierten Daten von 149 Patienten mit Schlag­anfall und einer Parese von >24 Stunden Dauer, die nach 4–6 Monaten (Zeitpunkt 1) und 16–26 Monaten (Zeitpunkt 2) auf erhöhten Muskeltonus, Spasmen, Parese und Schmerzen hin untersucht wurden. Als Skalen wurden verwendet:

  • Modified Ashworth Scale (MAS)
  • Spasm Frequency Scale (SFS)
  • Medical Research Council Scale (MRCS)
  • Global Pain Scale (GPS).

Insgesamt konnten 97 Personen über den gesamten Zeitraum nachbeobachtet werden (26 waren verstorben, 26 konnten nicht mehr aufgerufen werden). Bei 64% war die Parese zum ersten Untersuchungszeitpunkt zurückgegangen, 36% waren weiterhin gelähmt (betroffen: Arme in 2%, Beine in 1%, beide Extremitäten in 33%). Muskel-Hyperaktivität fand sich insgesamt bei 29%. Einen erhöhten Muskel­tonus stellte man bei 28% fest (3% Arm, 4% Bein, 21% beides), dieser war in 13% mit Schmerzen verbunden (9% der Patienten hatten einen GPS-Wert über 50). Spasmen kamen bei 16% der Patienten vor. Eine handlungs­induzierte Dystonie fand sich nur bei 2%. Die Behandlung umfasste am häufigsten Rehabilitation (65%), Physiotherapie (32%), Psychotropika (26%), Ergotherapie (21%), Analgetika (16%) und Spasmolytika (5%).

Bis zum zweiten Untersuchungszeitpunkt veränderten sich diese Charakteristika kaum. 35% waren weiterhin gelähmt. 33% zeigten eine Muskel-Hyperaktivität, 32% einen erhöhten Muskeltonus (immer noch bei 13% mit Schmerzen verbunden), 13% Spasmen und 3% eine handlungsinduzierte Dystonie. Die Anzahl an Patienten mit einem MAS von mindestens 2 in den Armen oder in den Beinen nahm gegenüber dem ersten Zeitpunkt zwar jeweils zu (von 12% auf 14% bzw. von 11% auf 21%), allerdings waren die Unterschiede nicht signifikant. Die Therapien waren Physiotherapie (25%), Ergotherapie (17%), Psychotropika (13%), Analgetika (9%) und Spasmolytika (7%).

Die Autoren sehen die Daten auch als Hinweis darauf, dass die spasmolytische Therapie ungenügend ist. Alternative Ansätze, z.B. mit Botulinumtoxin, würden zudem selten angewendet.

Wann treten Strokes auf und welche kognitiven Auswirkungen haben sie?

Das Montreal Cognitive Assessment (MoCA) und die Mini Mental State Examination (MMSE) sind Routinetests zur Erhebung der Kognition. Beide wurden in einer am Kongress präsentierten Single-Center-Studie dazu verwendet, um kognitive Einschränkungen von 100 hospitalisierten Patienten 24–48 Stunden nach Stroke zu messen. Auf der NIHS-Skala zur Beurteilung eines akuten Schlaganfalls lag der Durchschnittswert bei 15. Die Lokalisation des Strokes war bei allen Patienten in der A. cerebri media.

Die Betroffenen erreichten im MoCA einen Durchschnittswert von 21,6 Punkten (normal >26) und im MMSE einen Wert von 23,75 Punkten (normal >27). Die Unterschiede gegenüber der Normalbevölkerung waren signifikant. 24–48 Stunden nach Stroke zeigte sich in den beiden Tests also eine relevante Einschränkung der kognitiven Funktion. Die Autoren sahen den MoCA zudem als den geeigneteren Test an (die Werte der beiden Tests unterschieden sich signifikant voneinander).

Die gleichen Forscher präsentierten eine weitere Untersuchung, die sich mit dem bevorzugten Zeitpunkt des Auftretens eines Strokes beschäftigte. Es sei wichtig, die Voraussetzungen und Umstände eines Schlaganfalls so genau wie möglich zu beschreiben, um auch deren allfällige Abhängigkeit vom zirkadianen Rhythmus besser verstehen zu können. Tatsächlich fanden sich bei den 301 untersuchten Patienten mit ischämischem Stroke relevante Unterschiede im Ereigniszeitpunkt. Zwei Peaks über die gesamten 24 Stunden wurden sichtbar: 8% erlebten den Schlaganfall um 09:00 Uhr, weitere 8% um 19:00 Uhr. Im Vergleich zum nächsthäufigen Zeitpunkt (16:00 Uhr, 6,6%) waren die Unterschiede jeweils signifikant.

Quelle: 25. European Stroke Conference, 13.–15. April 2016, Venedig

CARDIOVASC 2016; 15(3): 38–39

Autoren
  • Andreas Grossmann 
Publikation
  • CARDIOVASC